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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 23. Dezember 1889

Lieber Karl!

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen.“1 Diese ernste Mahnung wird uns in diesen Tagen von vielen Seiten zugerufen; denn der Tod hält jetzt oft in ergreifender Weise eine reiche Ernte. Du wirst auch durch den Heimgang von Giesebrecht, mit dem Du nahe befreundet warst und erst kürzlich in der historischen Kommission verbunden gewesen bist2, schmerzlich ergriffen worden sein; es entsteht auch dadurch in den bayerischen Verhältnissen, wo er viel Einfluß gehabt hat, eine schwer zu ersetzende Lücke. Heute Abend werden wir der Beerdigungsfeier am Sarge von Fräulein Adelheid von Bülow, ältere Schwester von Frau von Heinz, beiwohnen; Clara war ihr nahe befreundet. Auch findet heute die Beerdigung des Unter-Staatssekretair Frreiherr von Zedlitz statt, der im besten Mannesalter in seinem Arbeitszimmer des Ministeriums des Innern durch einen Herzschlag plötzlich verschied. Alles dies fordert uns auf, uns auch in unßerem Alter auf das Ende zu rüsten, darf uns aber nicht hindern, uns der herrlichen Gabe und des Segens der heiligen Weihnacht zu erfreuen und Gott unßeren Dank darzubringen. Wir werden das Fest diesmal recht still feiern; unsere Kinder in Burg wollten zu uns kommen, soeben empfangen wir aber einen Brief, durch welchen sie abschreiben; zuerst war Willy am katharrlichen Fieber erkrankt und jetzt ist der kleine Wolfgang unwohl und nicht reisefähig. Von Oppeln haben wir, Gott sei Dank, immer gute Nachrichten; Marie war einige Tage in Breslau wegen Weihnachtsbeßorgungen. Auf der Durchreise wurden wir besucht von Bert von Flottwell, dem ältesten Sohn meines Schwagers Adalbert, jetzt Lieutenant in RendsburgHolstein –, der zunächst nach Breslau eilte. Heute kommt Paul von Flottwell, Regierungsassessor in Cöln auf der Reise zu seiner Mutter in Danzig. In diesen Tagen besuchte uns auch Landrath von Loebell, bisher in Neuhaus bei StadeHannover –, jetzt nach Rathenow versetzt, wo ihm seine junge Frau Grethe von Flottwell den vierten Sohn geboren hat; sie sind über dieße Versetzung sehr erfreut, wo sie auch vom Kreise mit herzlichem Vertrauen empfangen werden, während sie in Neuhaus unter den Welfen recht vereinsamt waren.

Unser junger Kaiser war auch von Influenza heimgesucht worden. Es schadet ihm nicht, wenn er ein wenig zu Hause festgehalten wird, obwohl man sich über seine Rüstigkeit und Jagdpassion – mit einem Arm! – freuen kann; es liegen aber auch andere ernste Aufgaben ob. Im neuen Jahr wird nun das Sozialistengesetz seine Lösung finden.3 Dabei ist weniger das Zentrum zu fürchten, dessen Feindseligkeit als natürliche Folge des unglücklichen Kulturkampfes bekannt ist, als die superklugen National-Liberalen, die ihre Popularität als Liberale nicht opfern mögen und ihr kühnes Versprechen, mit dem gemeinen Recht das Bedürfniß befriedigen zu wollen, schuldig geblieben sind. Die Sozialdemokratie ist ein Geschwür im Leben der Nation, welches unvermeidlich über kurz oder lang aufbrechen wird. Die Massen des Volkes werden in allen Kreisen, auch auf dem Lande, von unzufriedener Begehrlichkeit erfüllt und werden schwerlich anders, als durch schwere Erfahrungen und  Kämpfe zur Ruhe kommen. Die Kirche wird auch nicht durch Konzessionen in ihrem evangelischen Bekenntnisse Frieden erlangen; wo sie sich in Glauben und treuer Arbeit schwach zeigt, wuchern die Sekten, Methodisten etc., welche die Gläubigen, die Trost und Frieden suchen, an sich ziehen. Unsere junge Kaiserin hat ein warmes Herz für die Kirche und sucht ihr zu helfen; sie beschäftigt sich besonders mit warmem Interesse mit der Erbauung neuer Kirchen in den großen Städten und wir hoffen mit ihrer Hülfe auch darin etwas vorwärts zu kommen. Unter Anderem hat sie die Erbauung einer Kirche in Rummelsburg-Boxhagen, welche bisher zur Kirche in Stralau gehörte, ins Auge gefaßt.4 Die Gemeindeorgane von St. Matthäus haben der Kaiserin zu diesem Zwecke ein Geschenk von 100,000 Mark aus unserem Kirchenvermögen bewilligt.

Es werden für Dich besonders die beiden konkurrirenden historischen Werke von Sybel und Treitschke über die neueste deutsche Geschichte von Interesse sein. Das letztere5, von dem jetzt eben ein neuer Band erschienen ist, erscheint mir reicher und gründlicher, drastischer im Urtheil, wenn es vielleicht im Einzelnen daneben greift; das erstere6 glatter und eleganter mit dem sichtlichen Bestreben, den Ruf als Liberaler zu mehren; doch hat ihn Bismark überwältigt und er muß den Ruhm dieses großen Mannes verkündigen. Auf seinen Wanderungen in den letzten Dezennien, die ich selbst im Mittelpunkt miterlebt habe, kann ich ihn kontroliren.

Deine befriedigenden Mittheilungen über das Leben und die interessanten Erfahrungen Deiner Tochter Sophie in EnglandMalvern – haben uns sehr erfreut; sie findet dort für ihren regen Geist redliche Nahrung und gewinnt in nützlicher Arbeit die innere Zufriedenheit.

Für Deine freundliche Weihnachtsgabe in Nürnberger Lebkuchen, welche eben angekommen ist, sagen wir Dir herzlichen Dank; sie sind an sich trefflich und zugleich eine heimathliche Erinnerung.

Von Clara und Klärchen sende ich Euch, Dir und Deinen Kindern zu Hause viele Grüße und herzliche Segenswünsche. Dein

Immanuel Hegel