Mit banger Sorge eröffne ich jedesmal Deine Briefe und auch diesmal konnte Dein letzter vom 21sten dieses Monats1 nur das schmerzliche Bild des unveränderten Leidens der lieben Susanna bringen. Dazu kam die Anzeige von dem plötzlichen Tode des trefflichen Dr. von Hoffmann, der besonders in jetziger Zeit für die gesamte deutsche Theologie und evangelische Kirche, vornehmlich für Eure Universität ein kaum zu ersetzender Verlust ist. Es wird mir immer eine werthvolle Erinnerung bleiben, als er bei der Oktober-Versammlung in meinem Hause verweilte. Sein kernfestes Wesen, sein scharfer Verstand, die Klarheit, Sicherheit und Gewandtheit in seinem Benehmen gaben ihm das Gepräge eines ausgezeichneten Mannes. Wie viele Geistliche verdanken ihm ihre theologische Bildung und innere Befestigung. Die Kreise der Führer der gläubigen Theologen werden immer lichter; dagegen wuchert üppig das saftlose Kraut der liberalen Theologen, was von den Thieren des Feldes rasch abgefressen wird, wo dann die Winde über die Steppen fegen. Es müssen aber in der Geschichte der Menschen alle Ideen ihren Prozeß vollenden, so auch der Geist der Negation in der Religion und der Kirche, in der Politik und im gesellschaftlichen und wirthschaftlichen Leben des Volkes, bis daß die Menschen in ihrer Verzweiflung zu ihrem Herrgott schreien und eine Erlösung aus ihrer Noth begehren.
Im Augenblick sieht es auch in unserem Lande trübe und wirr aus; kein Mensch ist mit seiner Lage und seinem Stande zufrieden und alle Welt schaut nach Varzin2, um von dort das Losungswort zu empfangen. Dort liegt aber gerade der Schwerpunkt des allgemeinen Mißbehagens, welches sich in Bismark personifizirt. In seiner Vollkraft geschwächt, in den endlosen Kulturkampf verwickelt, von unklaren finanziellen und volkswirthschaftlichen Plänen bewegt, zu deren Ausführung sich erfahrene Staatsmänner nicht bereit finden, dadurch in Gemeinschaften und auf Wege geführt, welche seiner eigensten Natur und Ueberzeugung zuwider sind, bewegt er sich in tiefer Verstimmung und rastloser Unruhe und macht sich dann Luft in Ausbrüchen des Zornes gegen ziemlich harmlose und untergeordnete Individuen, von welchen er meint, daß sie ihm hinderlich wären. Der alte Kaiser fügt sich doch in Allem seinem Willen, da er glaubt, den heroischen Mann nicht entbehren zu können, und von dem er auch mit Recht fordert, daß er das Werk vollende, das er angefangen und gegründet hat. So sehen wir mit dem neuen Jahr den kommenden Dingen erwartungsvoll entgegen. Eine Neben-Episode in dießer Bewegung ist das Abschiedsgesuch von Präsident Herrmann; es wird mich nicht wundern, wenn er schließlich bleibt, obwohl Niemand von Herzen für ihn einsteht; er ist ein liberaler Professor, der viel beßer auf dem Katheder aufgehoben ist. Der Kaiser wird ihn mit Freude entlassen, und auch Falk möchte nicht auf sein Bleiben besonderen Werth legen, wenn nur ein paßender Nachfolger gefunden werden könnte. Es scheint, daß man einen solchen zu suchen sich bemüht. Ich für meine geringe Person lebe nur von einem Tage zum anderen und werde mit großer Freude den Tag begrüßen, da ich mit gutem Gewißen mich in den Ruhestand zurückziehe und die Bande abstreifen kann, die mich jetzt feßeln. Das Verlangen ist jetzt um so größer, da ich nach der neuen Organisation viel mehr durch die täglich laufenden Geschäfte belastet und ermüdet werde, und in meiner Arbeitskraft das zunehmende Alter stark verspüre, so daß ich daneben nicht die Frische und Kraft habe, mich mit den allgemeinen kirchlichen Fragen so gründlich und produktiv zu beschäftigen, wie ich dringend wünschte und es auch nöthig wäre. So werde ich auch im neuen Jahr meine Wanderung mit Resignation fortsetzen, ausdauernd in der Pflicht und entschlossen und gerüstet zum Kampf, wenn es geboten ist. Mein Vertrauen steht aber nicht auf Menschen, sondern allein auf Gott, den Herrn, auf Sein allmächtiges und barmherziges Regiment, der die Seinen nicht verläßt und unter deßen Schutz wir der Welt Trotz bieten. Es wird auch nicht mehr lange währen; dann ruhen wir von der Arbeit und allen Sorgen, und schauen vor Seinem Thron von Angesicht, was wir geglaubt haben.
Doch ist es eigentlich Unrecht, daß ich Dir, lieber Karl, so düsteren Vorstellungen ausbreite, da Du bei Deiner häuslichen Noth und Sorge viel mehr der Erfrischung und Erheiterung bedarfst. Ich muß es wohl erkennen, wie sehr Dich dieser Zustand niederdrückt, da ich in dem Frieden und dem freundlichen Zustand meines Hauses meine wesentliche Erholung und Erquikung finde. Dafür bin ich auch meinem Gott von ganzem Herzen dankbar. Meine Frau hat zwar mancherlei Leibesbeschwerden; doch sind sie, wenn auch lästig, doch nicht erheblich. Wir haben das Fest3 recht still und friedlich gefeiert, erfreut durch die guten Nachrichten von den Kindern aus Waldenburg. Leider konnte mein Schwager Theodor aus Potsdam nicht herüberkommen; er leidet zunehmend an neuralgischen Schmerzen und ich fand ihn, als ich ihn vorgestern drüben besuchte, in einem elenden Zustand.
Der Tod der jungen liebenswürdigen Frau von Vetter August hat uns mit inniger Theilnahme erfüllt; er wird mit der armen Mutter Mellenthin ein schmerzliches Weihnachtsfest begangen haben.
Den dritten Band von Deinen Cölner Chroniken4 habe ich vor einigen Tagen erhalten und ich habe auch schon mit Interesse Deine Abhandlung5 zu lesen angefangen; hoffentlich werde ich zu weiterer Zeit finden, da mich der Gegenstand lebhaft beschäftigt.
Von meiner Frau und meinen Kindern die herzlichsten Grüße und Wünsche zum neuen Jahr. Gott segne und behüte Dich, die liebe Susanna und Deine Kinder und schenke der theuren Kranken die Kraft und den Trost, um in Frieden zu tragen, was er ihr auferlegt! Dein Bruder Immanuel