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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 15. Januar 1872

Lieber Manuel!

Wenn ich Dich erst heute zum ersten Mal in diesem neuen Jahre aufsuche, so waren meine Gedanken doch oft bei Dir und Deinem neu beglückten Hause. Es liegt vor mir Dein lieber Brief vom 26. vorigen Monats1, worin Du über Eure Weihnachtsfeier berichtest und mich in den neuen Verwandtenkreis einführst, der unerwartet auf erfreuliche Weise auch wieder an alte Beziehungen anknüpft. Dies regt natürlich bei mir, wie auch den Meinigen, das Verlangen an, dieser neuen Welt auch persönlich näher zu treten, vor allem aber den Verlobten meiner lieben Nichte und Pathin kennen zu lernen, und ich hoffe sehr, daß wenigstens meiner Susanna und mir dis binnen kurz oder lang vergönnt sein wird, da ja die Hochzeit nicht weit hinaus verschoben werden soll. Ich bitte einstweilen die liebe Marie und ihren Verlobten herzlich von mir zu grüßen und mich ihren künftigen Schwiegereltern zu empfehlen; auch erinnere ich mich wohl der kurzen Begegnung des Onkels Bitter, des Musikfreundes, im Berliner Museum.2

Unterdessen hat die liebe Mutter, Deine Tante, von hier aus an Dich geschrieben und Dir berichtet, wie es ihr und uns ergangen ist. Die Weihnachtsfeier war für uns stiller als sonst, da wir den lieben Vater unter uns vermißten und außer zu den nöthigen Einkäufen gar nicht nach Nürnberg kamen. So empfinden wir es schmerzlich, daß in dem Dahingeschiedenen und seinem Hause, welches einen Familienmittelpunkt in Nürnberg bildete, uns nun auch ein wesentliches Verbindungsglied fehlt, das uns öfter mit dem ganzen Verwandtenkreis zusammenführte; denn nicht leicht kommt man dazu, die Einzelnen für sich besonders aufzusuchen, und wenn man bei ihnen immer die alte Herzlichkeit findet, so fühlt man sich doch weit auseinander in allen sonstigen Beziehungen. Häufig kommt zu uns nur der Schwager Friedrich, der als Forstpraktikant in dem Dorfe Dormitz zwei Stunden von hier gegen Neukirchen zu, Amt und Wohnsitz hat und auf dem Wege nach Nürnberg jedes Mal bei uns einspricht.

In meinem eigenen Hause geht es im ganzen gut. Der im Anfang sehr strenge und weiterhin mäßiger anhaltende Winter hat besonders das Vergnügen des Schlittschuhlaufens bei den Kindern befördert, welches mit vieler Lust auf dem nahen Canal, bisweilen bis Baiersdorf hin, betrieben wird. Nur Anna mit Rücksicht auf ihr Gehörleiden, welches sie mit so heiterer Ergebung trägt, und Mim, seit langem durch Frost an den Füßen leidend, halten sich davon fern; um so eifriger sind Luise, Mundel und Sophiechen, wie auch Georg. Für Luise kommt weiter das Tanzvergnügen hinzu, an welchem auch Anna bisweilen in unserer Harmonie sich betheiligt. Sonst treibt Anna Musik, Luise Literatur, Mim Französisch, die anderen gehen in die Schule bis auf den kleinen Gottlieb, der zu Hause allerhand Unfug macht.

Ich selbst lese über Neueste Geschichte und stehe jetzt beim Jahr 1848, welches ich mit dem folgenden schwer genug zu bewältigen finde; außerdem über deutsche Geschichtsquellen. Bisweilen halte ich auch einen Vortrag in einem größeren oder engeren Kreis von Collegen bei den regelmäßigen 14tägigen Zusammenkünften. Ferner redigire ich bei Bearbeitung von Cölnischen und Nürnbergischen Chroniken; ein Band Nürnberg, der vierte, wird jetzt gedruckt.3

An der Universität fehlt es selten an Personalveränderungen. Der treffliche Professor Herz ist gestorben; wir brauchen einen Physiologen. Dr. Immermann (aus Magdeburg), der hier Privatdocent war und eine angenehme Frau hatte, ist als Kliniker nach Basel gegangen. Professor Zöller, dessen Fach landwirthschaftliche Chemie ist, der wie auch seine Frau uns lieb war, geht nach Göttingen. Die Straßburger Berufungen4 haben uns nicht berührt. Für mein Fach kommen Professor Weizsäcker aus Tübingen und Baumgarten aus Carlsruhe dorthin, beides sehr gute Wahlen, und beide sind patriotisch gesinnt genug, um für die ungewisse Mission unter den entarteten und ungläubigen Deutschen eine gesicherte Lebensstellung aufzugeben und eine schöne Wirksamkeit zum Opfer zu bringen.

Wir lesen in den Zeitungen, daß Mühlers Ministertage gezählt sind und auch Du schriebst schon davon. Wie schwer wird es doch diesen Mann los zu werden, und wie schwer ihn zu ersetzen! Gewiß hat er es mit allen Parteien verdorben und er allein schien dies immer noch nicht zu glauben. Endlich hat der Landtag den Sturm heraufbeschworen, vor dem er weichen muß, wie fest er sich auch an seinem Sitz anklammern mag. Niemand wird ihn bedauern! Doch schade ist es um seine Kenntnisse und hohe Begabung und gewiß auch treffliche Gesinnung, daß sie durch den Mangel an staatsmännischem Takt und Charakter in den Schatten gestellt wurden.

Ich danke der lieben Marie für die Besorgung des seidenen Kleids, welches vielen Beifall gefunden; meine Januarzinsen von Köln-Minden genügen für die Rechnung. Ein Buffet, wie Susanna es sich schon lange wünschte, war das reiche Weihnachtsgeschenk der lieben Mutter unter Betheiligung von Friedrich.

Der Tod des Pfarrers Löhe in Neuendettelsau hinterläßt dort eine unersetzliche Lücke.5 Onkel Gottlieb konnte wegen Unwohlseins nicht bei der Beerdigung sein. Johannes Deinzer, der bisherige Vicar Löhe‘s versieht einstweilen die Pfarrstelle, der Missionslehrer Bauer das Directorium im Diaconissenhaus. Mangelsdorf in Leipzig war ernstlich unwohl (bei Blutspeien); wahrscheinlich deßhalb blieb von dort die Erwiderung aus. – Herzliche Grüße an die Deinigen aus meinem ganzen Hause!

Dein Bruder Karl.