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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 23. September 1874

Lieber Bruder!

Der 24. September mahnt mich Dir, wie alljährlich, meine brüderlichen Glückwünsche zu senden.1 Dies Mal bezeichnet er nach gewöhnlicher Betrachtung einen bedeutungsvollen Lebensabschnitt. Unser Vater sagte, als wir ihm an demselben Geburtstage2 Glück wünschten – und damals erschien er uns schon recht alt – daß man jedes weitere Lebensjahr als ein besonderes Geschenk Gottes anzusehen habe, und nicht viel mehr als eines war ihm nachher noch beschieden!3 Vielleicht halten wir, die Söhne, die wir uns nicht so wie er zerarbeitet haben, noch ein Paar Jahre länger aus; doch jedes läßt uns auf das folgende mit geringerer Sicherheit hoffen, und in dem Maße wie die Hoffnung verringert sich selbst der Wunsch. Denn die Freuden und Genüsse des Alters nehmen ab, während die Sorgen wachsen und die Arbeit zuzunehmen scheint, weil es uns immer schwerer, sie zu bewältigen fällt.

Doch diese trüben Betrachtungen sind nicht gerade geeignet, Dir an Deinem Geburtstage eine Freude zu bereiten, wie ich es doch lieber möchte. Nimm sie als Stimmung des Augenblicks auf, da ich mich noch matt fühle von einem Unwohlsein von 4 Tagen und Nächten durch heftige Dyssenterie, und langsamer die Kräfte in unseren Jahren sich wiederherstellen. Eben diese kostbaren Tage bei unvergleichlich schönem Herbstwetter, wie gerne hätte ich sie genutzt, um eine Arbeit zu vollenden, die ich nun beinahe aufgeben muß, da sie unterbrochen wird, die mich auf die Florentinischen Studien meiner Jugend zurückgeführt hat. Denn zu Anfang der nächsten Woche bin ich nach München zur Sitzung der historischen Commission berufen4, und wenn diese zu Ende ist, zur Prüfungscommission für Schulamtscandidaten5, welche mich bis Ende October dort festhalten wird, und damit sind für dies Mal meine Ferien zu Ende.

Um die Continuität unseres Briefwechsels zu bestätigen, bemerke ich, daß ich Dir zuletzt kurz vor unserer Abreise in die Schweiz (am 8. August) nach Johannisbad schrieb6; ebendorthin schrieb meine Frau an Clara, von Wesen aus wenn ich nicht irre. Deinen Brief vom 3. September7 erhielt ich hier gleich nach unserer Rückkehr aus der Schweiz, welche Ende August stattfand, 8 Tage vor der Eurigen nach Berlin. Euer Aufenthalt in Johannisbad war wohl bequemer, behaglicher und darum auch zuträglicher, als unser etwas unstetes Herumfahren und bisweilen anstrengendes Laufen in der Schweiz. Doch suchte ich nach Möglichkeit beides zu vereinigen, erheiternde Wechsel und wohlthuendes Verweilen. Die 3 Wochen der Reisezeit vertheilten sich auf 7 Tage in Wesen am Wallen See, 2 Tage in Brunnen am Vierwaldstätter See und 7 Tage in Rozloch oder Roßloch wie wir lieber sagen, am Alpnacher See, an welchem von Luzern her die Königstraße vorüberführt. Das Wetter war unbeständig, doch selten schlecht. Auf dem Rigi, den wir mit Eisenbahn bestiegen, hatten wir nur stückweise Aussicht; den Pilatus, den wir in Roßloch uns gegenüber hatten, ließen wir unbestiegen, d. h. wir erreichten kaum das erste Drittel und fanden die Aussicht verhüllt. Am schönsten erschien uns die Lage von Brunnen, über welchem das Hotel Axenstein 1 Stunde weit den höchsten Naturgenuß mit der Eleganz und Bequemlichkeit des Reichthums vereinigt. Aber der Menschenverkehr ist dort auch am stärksten und wirklich belästigend. Zusagender war mir deßhalb der Aufenthalt an den beiden anderen Orten, wo es auch nicht an Gesellschaft, namentlich von Berlinern, fehlte. In Wesen trafen wir z. B. Herrn Schneider, früheren Besitzer der Buchhandlung, die von ihm den Namen führt, Herrn Bahn, deßgleichen von der Trautwein’schen Musikalienhandlung, der sich mir als ehemaliger Schüler vom Kölnischen Gymnasium her zu erkennen gab8, den weltberühmten Dr. Lasker, mit dem ich mich gern unterhielt und der sich ebenso anspruchslos im Betragen als kenntnißreich bewies; in Rozloch waren wir mit Maler Spangenberg und Familie aus Berlin9 und einigen Leipzigern zusammen.10

Unsere Tochter Anna ist seit Anfang des Monats über Frankfurt nach Bonn gereist, wo sie bei Stintzings bis Mitte October bleiben wird; die beiden anderen Töchter Marie und Sophie sind seit 8 Tagen aus Kohlgrub zurück. Sophie scheint recht gekräftigt. Bei Lommels geht es gut. Meine Frau schließt sich meinen Glückwünschen an, auch Clara mit mir grüßend.

Dein Bruder Karl.