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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 9. Oktober 1889

Lieber Karl!

Herzlichen Dank sage ich Dir für Deine freundlichen Wünsche1 zu meinem Geburtstag2. Es ist eine große Gnade Gottes, daß Er mich auch in dem verflossenen Lebensjahr wieder gesegnet und behütet hat und ich auch von der Erholungsreise im Sommer erfrischt und gestärkt zurükgekehrt bin, sodaß ich meine Arbeit mit Freudigkeit fortsetzen kann. Ich hatte gemeint, daß ich noch in diesem Jahr den oft ersehnten Ruhestand würde antreten müssen; ich verdanke es der Langmuth und Barmherzigkeit des Herrn, daß Er noch weiteren Anstand gewährt; nach menschlichem Ermessen wird es nicht mehr lange währen und ich lege es ganz in Seine Hand. Es giebt genug Verhältnisse, die mein Ausscheiden aus dem Amt erschweren und mich darin festhalten. Gegenwärtig ist der Bau neuer Kirchen in Berlin bei dem großen kirchlichen Nothstand hierßelbst von der Kaiserin mit Ernst und Eifer angeregt und nimmt meine Thätigkeit stark in Anspruch. Zunächst will sie in der Vorstadt Stralau-Rummelsburg eine neue Kirche gründen und die Mittel dazu werden auch durch ihren Einfluß beschafft werden. Zu solchem Bau sind aber viele Vorbereitungen erforderlich. In diesen Bestrebungen hat sie einen sehr thätigen Beistand in ihrem Oberhofmeister Freiherrn von Mirbach, mit dem ich in diesen Angelegenheiten viel zu berathen habe.

Die Eröffnung des Reichstags steht nun nahe bevor und wir werden wieder die Freude haben, Willy bei uns aufzunehmen. Die politische Situation ist sehr verwickelt, besonders durch die auffallende Erklärung des Kaißers gegen die Kreuzzeitung.3 Wenn dießelbe auch aus dem persönlichen Entschluß des Kaißers hervorgegangen ist, so hat doch Bismark dazu die Anregung gegeben, der die entschiedene Hülfe der National-Liberalen in den großen politischen Fragen, wie Stärkung der militärischen Rüstung, des Sozialistengesetzes etc. nicht entbehren kann und namentlich die Stimmung der Süddeutschen berüksichtigen muß. Ob nun gerade ein so eingreifender Schritt, wie der des Kaisers dazu notwendig war, kann zweifelhaft sein; in der Konservativen Partei, welche schließlich der sicherste Halt für das Königthum bleibt, hat er große Verwirrung erzeugt, und es kann leicht dadurch ein bedenkliches Uebergewicht der Liberalen verursacht werden, welche doch immer unzuverlässig für die Regierung sein werden. Dies zeigt sich auch wieder in Betreff des Sozialistengesetzes, bei welchem sie die Wiederherstellung des gemeinen Rechtes zu verlangen scheinen, ohne die Ausführung möglich zu machen. Es ist nicht zu läugnen, daß die Kreuzzeitung im begründeten Mißtrauen gegen die Liberalen zu feindselig gegen das Kartell aufgetreten ist; es wäre ein bereitwilligeres Eingehen darauf politischer gewesen, wie auch der alte Kaiser Wilhelm nach seiner Erfahrung in der denkwürdigen Audienz gegen mich mir demonstrirte, wie man in der Politik auch oft laviren müsse.4

Deine Mittheilungen über den Abschied von Deiner lieben Tochter Sophie und ihre ersten günstigen Eindrüke in Old-England haben uns mit herzlicher Theilnahme erfüllt5, und wir wünschen, daß sie in ihrer neuen Stellung reiche Befriedigung und eine gesegnete Wirksamkeit gewinnen möge. Auf die Dauer wird sie, wenn auch die Lebenserfahrungen großes Interesse erregen, doch wohl viel Resignation und Tapferkeit nöthig haben und wird es ihr Bedürfniß sein, im heimathlichen Vaterhaus einen sicheren Halt zu bewahren. Es thut mir auch leid, daß Dein Siegmund in raschem jugendlichen Entschluß die sichere Stellung in Ludwigshafen aufgegeben hat.6

Meine Frau hat in der letzten Woche einen Ausflug über Breslau nach Oppeln unternommen, um die Kinder und Enkel wieder zu sehen. Sie ist nach 6 Tagen – mittels Retour-Billet7 – wohl und mit großer Befriedigung  zurükgekehrt; sie blieb einen Tag und Nacht in Breslau bei Bruder Adalbert. In Oppeln war natürlich auch von der Zeitungsnachricht der Versetzung Rudels nach Düsseldorf die Rede. Ich habe die Nachricht von Anfang an für unrichtig gehalten, da es doch unverständig wäre, Rudel schon nach einem Jahre von Oppeln abzuberufen, wo er eben erst Menschen und Zustände etwas kennen gelernt und eine sehr dankbare Thätigkeit begonnen hat. Er hat selbst darüber amtlich keine Kenntniß erhalten und wünscht dringend in Oppeln zu bleiben, wo sie sich auch sehr gemüthlich im Hause eingerichtet haben. Leider ist er immer noch von dem Ohrensausen stark heimgesucht und hat auch wegen dieses, wesentlich nervösen Leidens Ursache seine Gesundheit zu schonen.

Vor einigen Tagen war der Buchhändler Mangelsdorf, welcher in Gemeinschaft mir Dr. von der Pforten die angesehene Buchhandlung von Trowitzsch & Sohn mit Buchdruckerei und Schriftgießerei hier erworben hat, bei mir zum Besuch. Er war von dem Fortgang seines Geschäftes wohl befriedigt; er stellte den baldigen Besuch seiner Stiefmutter Anna in Aussicht, wozu wir sie auch herzlich eingeladen haben.

Nach den Zeitungen hast Du jetzt wieder an der Konferenz der historischen Kommission in München theilgenommen8 und Dich dabei bei Lommels ausruhen können. Wir hoffen, daß Du sie wohl getroffen und auch von Kleins in Göttingen gute Nachrichten empfangen hast.

Clara und Klärchen tragen mir herzliche Grüße für Dich und Deine Kinder auf.

In treuer Liebe

Dein Bruder
Immanuel