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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 15. Dezember 1872

Lieber Karl!

Durch Deine Tochter wird jetzt von meinem Hause ein lebhafter Verkehr mit dem Deinigen unterhalten; doch hat es mich sehr erfreut, durch Deinen lieben Brief1 auch unmittelbar von Dir Nachricht zu empfangen. Wir können hier nur sehr dankbar dafür sein, daß Ihr uns die liebe Anna für so lange Zeit überlassen habt; es würde sonst sehr, sehr stille in unserem Hause sein; sie erweckt überall ein erfrischendes Leben durch ihren fröhlichen Sinn und durch ihre rege Theilnahme an allen geistigen Interessen, welche sich ihr darbieten. Sie hat nun mit großem Eifer das Zeichnen ergriffen und zeigt auch darin eine ganz ungewöhnliche Begabung, die gewiß eine gründliche Ausbildung verlohnen und vor Allem ihr selbst eine reiche Quelle des Genusses und der Beschäftigung in ihrem Leben eröffnet wird. Es ist überraschend, mit welcher Leichtigkeit sie die Aufgaben darin erfaßt und sie mit Geist und Geschmack auszuführen weiß. Ihre unverwüstliche Heiterkeit ist aber besonders in ihrer Lage eine glückliche Gabe, die ich anerkennen und achten muß. Es ist ihr doch mit dem schweren Gehör eine große Last und Entbehrung aufgelegt, welche ihr im Verkehr mit anderen Menschen sich in jedem Augenblick aufdrängt, und ihr um so empfindlicher ist, je regsamer ihre Empfänglichkeit und ihr Streben nach geistigem Austausch ist. Es wäre nicht zu verwundern, wenn sie dadurch mißmuthig und verdrießlich würde. Die Selbst- beherrschung, mit welcher sie diese Entsagung und das Leiden trägt, verdient daher alle Anerkennung. Der Genuß des Aufenthalts in Berlin wird ihr nun auch durch die begonnene und lange dauernde Kur bei Dr. Lucae sehr beeinträchtigt, und sie muß sich namentlich in der Musik zur Schonung des Gehörs äußerst beschränken. Ich halte es auch für gerechtfertigt, daß sie die Kur, so lange sie Lucae selbst nicht aufgiebt, aushält und vollendet. Es ist doch Pflicht, alle Mittel der Heilung zu erschöpfen und Lucae ist jedenfalls ein gewissenhafter und zuverlässiger Mann und hier die bedeutendste Autorität in seinem Fache. Er hat augenscheinlich ein herzliches Interesse für Anna und giebt sich alle Mühe, ihr mit seiner Wissenschaft und seinen Versuchen zu helfen. Bis jetzt haben wir keine Beschwerung und überhaupt keinen Einfluß der Kur wahrgenommen und wir können hiernach kaum noch eine Hoffnung eines günstigen Erfolgs hegen. Sie ist aber andererseits in ihrer Gesundheit, welche überhaupt einen festen Kern und Grund hat, durch die Kur anscheinend nicht alterirt, obwohl diese doch recht eingreifend ist und leicht die Nerven erregen könnte. Ab und zu begleitet meine Frau sie zu Dr. Lucae, um auch mit ihm über die Kur zu sprechen; wir nehmen an, daß er dieselbe bis Weihnachten abschließen wird. Wenn alsdann das Honorar in Frage kommen wird, halten wir es für angemessen, ihn um eine Liquidation desselben zu ersuchen. – Wenn die Kur zu Ende sein wird, kann sie sich erst wieder frei bewegen, und möchte ich es ihr gönnen, daß Ihr dann ihr noch einigen Aufenthalt bei uns, wenn sie es lebhaft wünscht, gestattet; uns wird dies in jedem Falle eine große Freude sein.

Von unseren Kindern in Posen erhalten wir fortgesetzt heitere und glückliche Briefe; geselligen Verkehr haben sie bis jetzt nur wenig angeknüpft, da sie am liebsten ihre Häuslichkeit für sich genießen. Zu Weihnachten werden sie auch nicht herkommen und ich kann ihnen dies auch nicht verdenken; für eine kurze Zeit ist der hiesige Kreis von Verwandten und Freunden gar zu bewältigen. Auch kann er nicht oft und viel Urlaub verlangen. Sie wollen zum Frühjahr herkommen, um die Hochzeit der treuen Freundin Anna Lepsius mitzufeiern. Die andere Freundin Anna Hengstenberg, auch ein prächtiges Mädchen, hat sich in diesen Tagen mit dem Assessor Siegfried von Quast, ältester Sohn des Bauraths von Quast verlobt, und es erregt auch diese Verlobung in unserem Kreise herzliche Theilnahme.

In den vergangenen Wochen hatten wir auch öfters Besuche von meinem Schwager Herrmann und seiner Familie; er hat sich für den Winter nach Wiesbaden übersiedelt, und zwar vernünftiger Weise mit seiner Familie. Sein Zustand bleibt immer bedenklich und hat sich nicht gebessert; er hustet ununterbrochen und bedarf zur Erhaltung seiner Kräfte der sorgsamsten Pflege. – Aus Arolsen haben wir mit Weihnachtsaufträgen auch kürzlich Nachricht erhalten; Ella ist fortwährend kränklich und Schwager Adalbert, nachdem er mit dem Landtag gescheitert ist2, legt sich auf das Abwarten der Zeitläufe. Dies scheint mir auch ganz verständig zu sein; denn der liberale Parlamentarismus wird in Preußen, Deutschland, Oesterreich, Frankreich etc. bald eine solche Konfusion zu Stande gebracht haben, daß eine kräftige Reaktion zur Erhaltung unvermeidlich sein wird. Das nächste Jahr wird auch bei uns sich vermuthlich reich durch politische Bewegung auszeichnen. Die katholische Agitation, welche die Regierung ohne gründliche Ueberlegung der wirksam anzuwendenden Mittel gegen den Ultramontanismus nur überstürzend entzündet hat, wird schwere und gefährliche Früchte zur Reife bringen. Man hat in selbstgefälligem Hochmuth die Macht des Staats mit seinen polizeilichen Mitteln im Kampfe gegen die Kirche und ihren religiösen Einfluß sehr überschätzt, und er wird, wenn er nicht höhere geistige Kräfte in Anwendung bringt, unfehlbar scheitern. Die arme evangelische Kirche wird dabei mißachtet und der Auflösung zugeführt, obwohl sie die einzige Macht wäre, welche den Katholizismus bezwingen könnte, aber nicht mit liberalen Phrasen, sondern mit der Kraft des Glaubens. Mit Beginn des Jahres erwarten wir Präsident Dr. Herrmann; er wird aber schwerlich das Schiff unserer Kirche mit fester Hand durch Sturm und wogende Brandung in den sicheren Hafen steuern können. Eine schwere Krisis steht ihm und mir bevor, da nun nächstens die Entscheidung in der Sydowschen Sache erfolgen wird, welche mich in den letzten Wochen sehr angestrengt beschäftigt hat. Ich will nicht mich des Näheren heute darüber auslassen, weil die Sache noch nicht zum letzten Abschluß gebracht ist, und es immerhin möglich bleibt, daß noch von Oben ein Deus ex machina Halt gebietet. Also bitte ich Dich auch, bevor die Entscheidung publizirt ist, kein Wort darüber zu verlieren.

Den neuen Band der Nürnberger Chronik3 habe ich richtig erhalte, und besonders der Tuchers wegen mit Interesse darin gelesen.

Zum Schlusse wünsche ich Euch ein friedliches und fröhliches Weihnachtsfest, und freue mich besonders mit Dir, daß Du bis dato mit Deinem Georg zufrieden sein kannst. Gott erhalte ihn auf gutem Wege.

Herzliche Grüße von Allen; Deine Anna erwartet mit einiger Sehnsucht täglich einen Brief von ihrer Mama.

Mit den besten Wünschen Dein Bruder Immanuel