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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 2. September 1879

Lieber Karl!

Nach Deinem lieben Brief vom 18ten vorigen Monats1 aus Rippoldsau kann ich annehmen, daß Du in diesen Tagen nach Hause zurükkehren wirst, und da will ich Dir Nachricht geben, daß wir uns auch wieder zu Hause befinden. Wir sind vor acht Tagen zurükgekehrt, nachdem wir am Freitag, den 22sten vorigen Monats Ems verlassen hatten. Unser vierwöchentlicher Aufenthalt an diesem freundlichen Ort ist in jeder Beziehung angemessen verlaufen. Wohnung und Verpflegung in der Villa bella Riva, zwei sehr wichtige Bedingungen der Annehmlichkeit, waren ausgezeichnet; die Kur mit dem Brunnen wohlthuend, ohne Beschwerde und mit der Hoffnung eines späteren guten Erfolges; die Gesellschaft ausreichend und unterhaltend, ohne mit lästigen Verpflichtungen in Anspruch zu nehmen; mit der Abreise von Windhorst war das piquante2 Element fortgegangen. Die liebliche Umgegend lud zu nahen und fernen Spaziergängen ein, und mit Hülfe der Eisenbahn konnten bequem Nachmittags Ausflüge auswärts nach Nassau etc. und abwärts nach dem Rhein, Stolzenfels etc. gemacht werden. Auch Frücht besuchten wir, auf der Höhe gelegen, von herrlichen Waldungen umgeben, wo die Kapelle mit den Gräbern von Stein und seiner Familie sich befindet. Die Rückreise machten wir den Rhein hinunter, welcher Clara im Ganzen noch unbekannt war und dessen reiche Herrlichkeiten ihr großen Genuß bereiteten. Den oberen Theil bis Bingen und mit dem Niederwald hatten wir schon früher von Ems besucht und fuhren nun nach einem kurzen Aufenthalt in Coblenz mit dem Dampfboot bis Rolandseck, an welchem schönsten Punkt wir einen halben Tag und die Nacht zubrachten. Das herrlichste Wetter begünstigte diesen genußreichen Aufenthalt. Am Sonnabend3 fuhren wir mit dem Dampfboot nach Bonn, besuchten hier Frau Snethlage, Wittwe des ersten Ober-Hofpredigers und langten am Mittag per Eisenbahn in Cöln an. Hier wurden mit Interesse die Kirchen und vor Allem der wundervolle Dom, in welchen Clara immer wieder zurükkehren mußte, besucht und die winkelige Stadt nach allen Richtungen durchkreuzt, auch Bismarks ähnliche und mannhafte Statur in Augenschein genommen. Am Sonntag Nachmittag wurde die Fahrt bis Paderborn fortgesetzt, wo wir unseren Willy besuchten. Wir hatten gewünscht, daß er mit uns am Rhein zusammentreffen sollte; dies war ihm aber nicht möglich, weil er in Abwesenheit seines Vorgesetzten Regierungs-Rat Himly das bischöfliche Kommissariat vertreten mußte. So lernten wir den alten katholischen Bischofssitz mit seinem Dom, vielen anderen Kirchen und Klöstern, seinen merk- würdigen, unter den Häusern mächtig hervorströmenden Paderquellen gründlich kennen, und konnten uns an der befriedigenden Existenz und interessanten Thätigkeit unseres Sohnes erfreuen. Am folgenden Nachmittag begleitete uns Willy noch bis Holzminden und wir fuhren bis Magdeburg, wo wir unser Klärchen wohl und munter bei Marie Trinkler wiederfanden. Hier blieben wir auch noch die Nacht, und kehrten dann endlich am Dienstag4 nach Berlin zurük.

Die ersten Tage fallen mir nach längerer Ruhezeit immer schwer; die physischen und geistigen Kräfte müssen sich immer erst in die Unruhe und anstrengende Arbeit des täglichen Lebens wieder eingewöhnen. Hier kam ich nun auch gleich in die August-Konferenz, mit welcher zugleich vorbereitende Berathungen für die Generalsynode im engeren Kreise verbunden wurden. Diese Synode wird erst im October gehalten werden; sie wird durch die Wahlen und die Eröffnung des Landtags ins Gedränge geraten.5 Für unsere Kirche wird sie von großer Bedeutung sein, und ich werde auch zur Vorbereitung für sie die nächsten Wochen noch sehr ausnützen müssen. Es ist jetzt in allen öffentlichen Verhältnissen eine Zeit der Spannung und kritischer Entwicklung, welche zu bestimmten Entscheidungen treibt. Die Landtagswahlen werden hierbei von großem Einfluß sein.

Wir haben uns sehr an Deinem Bericht über den Aufenthalt in dem schönen Rippoldsau und dem freundschaftlichen Verkehr mit der alten Freundin, Frau Gervinus erfreut. Auch die Tage bei Kiesers in Stuttgart haben Euch viel Genuß gewährt, und die Rükreise über Schaffhausen und den Bodensee wird das Ganze bestens gekrönt haben. Wir wünschen herzlich, daß Du Dich recht gestärkt mit allen Kindern nun glüklich wieder zusammengefunden hast. Von Clara und Klärchen habe ich allerseits herzliche Grüße auszubringen.

In treuer Liebe
Dein Bruder
Immanuel