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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 27. Oktober 1844

Lieber Karl!

Mein Versprechen, Dir bald von Berlin zu schreiben2, erfülle ich etwas spät; Du wirst aber durch Friederike erfahren haben, daß ich inzwischen mit meinem Präsidenten von Rönne eine Reise nach Leipzig und Magdeburg unternommen habe, und kannst Dir wohl auch vorstellen, daß ich bisher in Berlin noch wenig zur Ruhe gekommen bin. Es war in der Stadt nach allen Seiten hin ein außerordentliches Treiben; aus allen Gegenden kamen Fremde zur Gewerbeausstellung, welche nun endlich geschlossen ist. Auch das Flottwellsche Haus war angefüllt von Gästen, welche länger oder kürzer dort verweilten.

Im Ganzen haben wir uns dabei wohl erhalten; unser Hausstand ist durch Vetter Georg, Siegmunds3 Aeltester, vermehrt worden, welcher vor 8 Tagen hier eintraf und hier als Jurist auf der Universität mehrere Semester studieren will. Die Mutter hat für ihn ein Zimmer von der leeren ehemals Fridelschen Wohnung, an unser Entree anstoßend gemiethet und bestmöglichst eingerichtet. Er wird auch fürs erste bei uns wohnen bleiben und versuchen, ob die weite Entfernung der Wohnung ihm nicht hinderlich sein wird. Er ist ein großer kräftiger schöner Bursche, frisch, offen und lebendig, ein Prachtexemplar von Nürnbergern, mit dem wir hier Ehre einlegen. Der Mutter ist es eine große Genugthuung, an ihm die Freundlichkeiten zu vergelten, welche sie und wir alle oft in Nürnberg genossen haben. Er hat ein gutes herzliches und verständiges Wesen und einen recht aufgeweckten Sinn. Bei Flottwells ist er freundlich aufgenommen.

Im Flottwellschen Hause war es in der ganzen Zeit recht unruhig; gestern sind nun die letzten Gäste bis auf ein Frl. Gumpert abgereist; der Onkel Präsident von Bähr aus Cöslin, welcher sich seiner Augen wegen von Böhm behandeln ließ, hat Clara nach Köslin zum längeren Aufenthalt daselbst mitgenommen. Sie soll dort mehr in Ruhe leben, als es hier im elterlichen Hause möglich ist; ihre Nerven sind noch zu angegriffen, um das bewegte Leben hier, den Umgang mit so vielen fremden Menschen ertragen zu können. Im Uebrigen war ihr Zustand nicht bedenklich, und wir hoffen, daß der ruhige Aufenthalt bei der Tante sie recht bekräftigen werde. – Dr. Winter lebt in einem Gemisch von Menschen und Geschäften; er findet darin sein Element; in 10 Tagen macht er noch eine kurze Reise nach Westphalen, um die letzte Entscheidung für die Bahnlinie von Minden nach Düsseldorf zu treffen.

Dein Schwesterchen4 ist recht wohl, in der letzten Zeit von Kopfweh gar nicht und von Zahnweh viel weniger geplagt gewesen; sie ist frisch und lebendig und hat Kopf und Herz auf dem rechten Fleck – ein gesundes liebes Herz, dessen Werth ich täglich mehr erkenne und dessen Liebe mich ganz erfüllt. Welcher Schatz, welcher Reiz, welche Lieblichkeit und Weisheit liegt doch in dem Leben eines solchen innigen weiblichen Gemüths! Mir tritt nun der Gedanke und Wunsch unser baldigen Verheirathung näher; ich hoffe, daß sich dies im Frühjahr verwirklichen werde und will bald anfangen, mich nach einer Wohnung umzusehen; ich suche sie in der Mitte zwischen Finanzministerium und Dr. Dönhoff, wo möglich in der Gegend des Potsdamer Thors.

In meinem Handelsamt habe ich nun auch meine Beschäftigung begonnen; der Anfang war meine Reise mit Rönne nach Leipzig; sie ist mir sehr interessant gewesen, indem wir dort eine großartige Uebersicht des deutschen Handels und vieler Fabrikationszweige erhielten. Wir lernten viele Kaufleute, Fabrikanten, Literaten, auch Sächsische Beamte kennen, bei denen wir überall eine sehr freundliche Aufnahme fanden und viel in unserem Fache gelernt haben. Die verschiedensten Warenlager wurden besucht, ebenso der Pakhof und andere Anstalten. Von Leipzig fuhren wir noch nach Magdeburg, wo Rönne auch die angesehensten Kaufleute kennen lernen und mehrere Fabriken, besonders Runkelrübenzuckerfabriken besuchen wollte. Meine dortigen Freunde waren nicht wenig erstaunt, mich so bald wieder bei sich zu sehen.

Die Aeltesten der Kaufmannschaft gaben uns ein splendides Diner. Am 9ten Tage, den 15ten October, kehrten wir wieder nach Berlin zurück. Die Reise hatte für mich zugleich den großen Nutzen, daß sie mir Gelegenheit gab, dem Präsidenten von Rönne persönlich näher zu treten; ich kann mich nur glücklich preisen, ihn zu meinem Vorgesetzten zu haben; bei einer etwas steifen Aussenseite hat er ein sehr einfaches, freundliches, wohlwollendes und anspruchsloses Wesen, und ich konnte bald bei dem großen Vertrauen, welches er mir schenkte, mit ihm auf einem herzlichen Fuße leben; er ist dabei sehr besonnen, gebildet und viel erfahren und scheint mir diejenige Vereinigung von Eigenschaften zu besitzen, derer er bedarf, um sich in seiner äußerst schwierigen Stellung zu behaupten und Platz zu gewinnen. Von der einen Seite zu große Hoffnungen, von der andern Mißtrauen und persönliche Feindschaft. Fürs erste können wir nichts thun als lernen. Zu diesem Zwecke werde ich nun wieder morgen mit Rönne auf 14 Tage über Hannover nach Bremen und Hamburg reisen, um uns dort umzusehen und ich freue mich sehr auf diese interessante Reise.

Meine unendlichen Besuche bei Freunden, Geheimen Räthen und Ministern habe ich nun alle abgemacht, theils mit, theils ohne Friederike; diese scheint auch den hiesigen Freunden sehr zu gefallen. Marheineke ist sehr schwach und wird sich nicht wieder erholen; Xeller war in Schlesien; der 1ste Theil von Vaters Werken erscheint nun in diesen Tagen mit der von Schelling in Anspruch genommenen Abhandlung; jeder Herausgeber hat eine besondere Erklärung abgegeben, welche in dem Vorwort abgedruckt wird.5

Die Mutter, Vetter Georg, Friederike und alle Uebrigen, grüßen Dich herzlich. Leb wohl, lieber Karl, Dein Bruder Immanuel

P. S. Der alte Wiss, Landrat Groot aus Bernburg etc. waren hier zum Besuch: gestern kam auch Wichern aus Hamburg und blieb am Mittag bei uns; er grüßt Dich freundlichst; er wird hier den König sprechen.