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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 1. April 1874

Lieber Karl!

Mit inniger Theilnahme haben wir die schmerzliche Nachricht1 von dem Heimgange Eures lieben kleinen Gottliebs empfangen, und wie Du mit warmen Zügen der väterlichen Liebe das liebliche, fröhliche und hoffnungsreiche Bild des Kindes schilderst, können wir die Größe Eures Verlustes ermessen und müssen Euren Schmerz und Eure Trauer in herzlicher Liebe mitfühlen. Es ist eine schwere Heimsuchung, bei der es sehr natürlich und begründet ist, wenn heiße Thränen am Sterbebette und am Grabe geweint werden, und es ergreift uns der Schmerz um so mächtiger, wenn der Uebergang aus dem frischen Leben in die Macht und Stille des Todes so rasch und plötzlich vor unseren Augen eingetreten ist. Gott, der Herr, der Euch dieses Kind und damit so viel Freude und Hoffnung für dieses Leben genommen, wolle Euch auch mit der Kraft Seines Trostes erfüllen, daß Ihr recht gewiß werdet, daß es nur Seine Gedanken der Gnade und des Friedens sind, welche Euch in diese schweren Stunden und Tage hineingeführt haben und daß Er Seine Herrlichen Verheißungen einer seligen Hoffnung im ewigen Leben an Euch und Eurem Kinde wahrhaftig erfüllen wird. Solche ergreifenden Erlebnisse und Erfahrungen führen in die Tiefe und volle Zuversicht des Glaubens; wir stehen vor den Räthseln dieses zeitlichen Lebens, welche eine volle und unbedingte Lösung fordern. Es genügt nicht die Resignation und auch nicht bloß die Demüthigung unter die gewaltige Hand Gottes. Die letztere leitet uns vielmehr zu der Quelle des himmlischen Trostes, wo wir erfahren: Es ist in keinem Anderen Heil, ist auch kein anderer Name, als der Name Jesu Christi, unseres Herrn, und wir stimmen dann auch ein in den Lobgesang: Gelobet sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Todten.2 Ja, es ist diese lebendige Hoffnung uns armen und schwachen Menschenkindern unentbehrlich; sie ist auch in unseren Herzen unvertilgbar und durch unseren Heiland und Erlöser wirklich geoffenbart und bekräftigt. So wisset Ihr nun, daß Euer liebes Kind, wie es in den Tod Jesu Christi getauft ist, auch gleichwie Er von den Todten auferstehen und in einem neuen Leben wandern wird. Da hat auch der Tod seinen Stachel verloren und Ihr schauet im Glauben über das Grab hinüber Eurem verklärten Kinde nach in der gewissen Hoffnung, mit ihm auch einst wieder vereinigt zu werden. In dieser Hoffnung verklärt sich auch die Vergangenheit mit der wehmüthigen Erinnerung an den schönen Besitz, dessen Verlust Ihr nun so schmerzlich empfindet. Es ist doch eine glückliche und dankbar zu erkennende Freude, daß das Andenken an Euren kleinen lieben Gottlieb ein so ungetrübtes, schönes und reiches ist; es wird Euch dadurch auch für dieses Leben wenigstes ein schönes Theil des reinen Glückes bewahrt und fortdauernd erhalten, das Ihr in ihm besessen habt. Mögen auch die Kinder, welche Dir noch durch Gottes Gnade geblieben sind, in herzlicher Liebe dazu beitragen, die schmerzliche Lücke in der Freude des Hauses auszufüllen. Vor Allem möchte ich Deinem Georg es mit dringender Bitte es3 ans Herz legen, daß auch er, durch den Tod des Bruders von dem Ernst und der Vergänglichkeit des Lebens und von der Rechenschaft, welche Gott, der Herr, von uns einst fordert, tief ergriffen, unter aufrichtigem Gebet den ernsten Vorsatz in seinem Gewissen befestige, nunmehr in der Furcht Gottes redlich, wahrhaftig und treu zu wandeln und seinen Eltern dadurch eine wahre und dauernde Freude zu bereiten.

Wir werden fortgesetzt uns besonders in den nächsten Tagen, welche Euch noch recht schwere Stunden bringen werden, mit herzlicher Theilnahme Euer gedenken; Gott gebe, daß auch Eure liebe Luise in ihrem angegriffenen Zustande dieselben ohne Nachtheil überstehen möchte.

Clara will Euch auch noch selbst gleich schreiben.4 Willi ist bereits am Montag5 nach Wesel abgereist, woselbst er bei seinem Regiment – No. 56 – als Reserve-Offizier eine 6 bis 8 wöchentliche Uebung durchzumachen hat. Er hat seit Mitte Februar als Referendar bei der Gerichts-Deputation in Alt-Landsberg, einem kleinen Städtchen in der Nähe der Rüdersdorfer Kalkbergen gearbeitet und sich daselbst recht wohl befunden und wird auch nach seiner Rückkehr von Wesel wieder dahin zurückkehren. Er befindet sich hier in einer lehrreichen Schule der juristischen Praxis und lernt auch das Leben der Menschen in einfachen und natürlich gesunden Verhältnissen kennen. Unsere Posener Kinder mit Enkelkind erwarten wir zum Fest6 am nächsten Sonnabend7 zum längeren Besuch und freuen wir uns sehr auf dieses Wiedersehen.

Deinen letzten lieben Brief8 früher zu beantworten, habe ich keine rechte Ruhe gefunden. Ich kann kaum das Nothwendige bewältigen; theils ist es an sich viel, theils fehlt aber auch die Spannkraft der Jugend, die Masse des Stoffs und der Anspruch, welche diese stürmische Zeit und mein Amt und kirchliche Stellung täglich bringt, so wie ich wünschte, zu bewältigen. Es ist eine schwere und verhängnißvolle Zeit, in der die wichtigsten Grundlagen des Volkslebens erschüttert und umgestaltet werden und wir treiben anscheinend in eine große Krisis hinein, zu der auch der Einzelne sich innerlich und äußerlich rüsten und vor Allem einen festen Grund und eine gewisse Ueberzeugung gewinnen und sich erhalten muß. Gott, der Herr, möge uns in solchen und anderen Heimsuchungen mit Seiner Kraft ausrüsten.

Viele herzliche Grüße Deiner lieben Susanna, dem tief verwundeten Mutterherzen, und allen Deinen lieben Kindern, insbesondere auch der theuren Tante Marie, die auch wieder zum Beistand, wo es noth ist, herbeigeeilt ist.

In treuer Liebe Dein Bruder Immanuel