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Maria Helena Susanna Hegel, geb. Tucher, an Karl und Immanuel Hegel, Berlin, 6. Februar 1844

Mein lieber Karl und Immanuel!

Ich schreibe Euch Beiden, um ein und dasselbe nicht zweimahl zu schreiben – Ich habe indeß viel ohn Euch Ihr Lieben unter und übernommen und komme mit schwerem Herzen daran, Euch davon zu schreiben, denn Eurer treuen Liebe und Sorge um mich, wird damit nicht zufrieden seyn. Ich habe mich entschlossen – die unglückliche Fürstin Gallizin bei mir aufzunehmen! Die Sache wurde mir anfangs sehr leicht vorgestellt – leichter als ich es nun finde.

Ihr kennt aus den Zeitungen ihr Schicksal. Sie lebte mit ihren 3 Töchtern, deren Erziehung sie sich ungetheilt widmete, seit 16 Jahren, theils in der Schweiz, theils in Paris, ist zu der Reformirten Kirche mit ihrer ältesten Tochter übergetreten: der Vater forderte die beiden ältesten Töchter zurück, holt sie von der Mutter, und veranlaßte die Mutter, indem er ihr Hoffnung macht der Kaiser würde ihr vergeben mit der jüngsten 11 Jährigen nach Petersburg nachzukommen – dort wird ihr das Kind in ein Kloster gesteckt. Die Alteste zum Ubertritt zur Griechischen Kirche beredet, und die unglückliche Mutter wird des Landes verwiesen und aus besonderer Gnade wird ihr noch erlaubt (statt nach Sybirien, wohin sie erst verwiesen wird) sich selbst einen Wohnort im Ausland zu wählen. Ihr Gemahl bestimmte ihr Berlin, wo sie an der Gräfin Schlieffen eine Cousine hat – In der Ungnade des Kaisers, geächtet von der Griechischen Kirche, wird sie auch ihres ganzen Vermögens beraubt (d. h. es wird unter Administration gehalten für ihre Kinder), von ihren Verwandten mißhandelt (die eigene Mutter flucht „den Tag an dem sie sie geboren hat“) und von ihren alten Dienern verlassen – So kommt sie mit gebrochenem Herzen, doch mit einem Glauben, der dem Herrn alles hinzugeben bereit ist, hieher – in Begleitung einer Buchhändlersfrau, die hier Geschäfte hat – und wieder zurück reist – Sie kränkelte schon immer an einer Herz Erweiterung, diese Schmerzen haben vollends ihre Gesundheit zerrüttet – – Sie ist eine Frau von 38 – 40 Jahren, eine edle Gestalt, schöne edle Züge, blaue seelenvolle Augen, eine ruhige Haltung, sanfte Stimme, eine Frau von vielem Verstand, feiner französischer Bildung – Talent – sie spielt und singt vortrefflich, ihre Albums enthalten die schönsten Handzeichnungen und Gemählde – und über dem allen ist Gottes Wort ihres Herzens Trost und nun ihre einzige Stütze und Halt – Und nun sagt mir Ihr Lieben, würdet Ihr diese Frau wenn sie an Euch gewiesen würde, die Thüre verschließen? – Schlieffens1 suchten auf ihren Wunsch eine Familie, in der sie still und zurückgezogen leben könnte, und verfielen auf mich – Sie fragen Goßner und eh sie mich nennen verfällt er auf mich! – So wird mir von Goßner die liebe Frau zugeführt – und so sehr ich mich sträubte, so gewiß war es mir, wie ich sie kennen lernte, daß ich sie aus Gottes Hand annehmen mußte – Sie kam selbst zu mir, und fragte wollen Sie mich als eine arme Schwester aufnehmen? Ich bedarf wenig, nur Ruhe und Stille.

Die gelbe Stube und das Entree zum schlafen und wohnen für sie und ihre Jungfer, sie begehre nichts weiter – Morgens Chocolade und um 5 Uhr Suppe und Fleisch. Die Gouvernante der Schlieffen, die sie zu mir begleitete, sagte mir allein, ich möchte den Preis bestimmen und da ich sagte ich hätte daran noch nicht gedacht, meinte sie 70 Thaler Monathlich wäre ihr schon sonst wo gefordert worden, sie gebe was ich fordere – Tags darauf machte ich ihr meinen Gegen Besuch und fühlte mich so befriedigt und in christlicher Liebe und Gemeinschaft zu ihr hingezogen daß es mir nun nicht mehr wie 2 ein Geschenk war, das ich von Gottes Hand annahm, der mir Einsamen nun eine Schwester, eine Lebensgefährtin schenkte – mich ihr schenkte – der, wie Hiob (so sagt sie) der Herr Alles Alles genommen hat. Mann, Kinder, Vaterland, Vermögen, Gesundheit, ihre Diener – (Sie hat sich eine Berliner Kammerjungfer gemiethet, die sie erst anlernen muß) Wie gerne will ich diese Schwergeprüfte pflegen, ihr wohl thun, sie lieben – Sie hat schon in Frankreich die Spitäler und Gefängnisse besucht und wollte sich, so viel es ihre Kräfte erlauben, mit mir ins Krankenhaus gehen – Nun bat sie nur noch, so bald wie möglich! Der Lärm im Hotel da Brandenburg wäre ihr unerträglich – da hatte ich dann einige Tage mit den nöthigen Einrichtungen für sie viel zu thun – Es mußten 2 Schränke Bettstelle und 3 (ein Aufrechtstehendes) für sie entlehnt der rothe Sopha und Matraze gepolstert – Jeden gelegt und gewendet werden – Wenn die gute Sybel zu mir herüber kam, machte sie mir den Kopf warm, was Karl und Manu dazu sagen würden – wie viele Noth und Unruh! – es dünkte ihr alles zu viel – Aber ich wollte das Wenige was ich der lieben Frau geben konnte, doch reinlich und wohnlich ihr einrichten und hatte ja dazu Helfershelfer genug – der gute Matthies miethete mir die Meubles – Nun steht in meinem Wohnzimmer wo die Büste stand4, ein neuer Bücherschrank und an der andern Seite des Sophas der Schreibtisch und an der Stelle desselben das Fortepiano – das ist unser Salon. In meiner Schlafstube steht der braune Sopha auf dem ich schlafe – ein 5 entlehnter Kleiderschrank, gefüllt mit der Pracht Garderobe der Fürstin – das ist mein Wohn und Sprechzimmer – Vor dem Mädchen Bett auf dem mein Bette liegt, ist eine weise Gardine – und die Küche ist gleichfalls durch eine braune Katun Gardine, in Küche und 6 abgetheilt – – Vaters Basrelief hängt in meiner kleinen Schlafstube, da wo der Spiegel hing, vortrefflich beleuchtet, Dein Bild lieber Karl über dem Sopha. In der Stube der Fürstin steht Vaters Schreibtisch da wo das Bild der Stock hing – dieses Bild ersetzt das Deine, darunter der Halbrunde Tisch – an der Stelle des Schreibtisches steht ihr Bette und nebenan der kleine Sopha – Im Vorzimmer an der Stelle des Sophas das Bett der Jungfer hinter einem grünen Bettschirm – so wohnt die Fürstin Gallicin geborene Fürstin Suvaroff Enkelin des berühmten General Savaroff – Für die für sie nothwendigen Einrichtungen und Anschaffungen will sie mich schadlos halten und mir die Kosten meines Haushalts so viel mehr er kostet ersetzen, für Miethe und Meublar bestimmte ich, weil sie es in beiliegendem Brief forderte Monatlich 3 Led, wovon 3 Th. 15 für geliehene Meublen abgehen. Für das was ich aus christlicher Liebe thue, nehme ich keine Bezahlung – denkt ihr was ich von ihrem Geld brauche zu wenig, so soll sies dem Krankenhaus schenken. So lautet unser Vertrag: –– Nun wird es mir freilich wohl nicht so leicht, als ich mirs dachte – Sie will wohl eine arme Schwester in Christo seyn, aber was sie als Fürstin gewöhnt ist, kann sie noch nicht ganz abstreifen. Sie will mir gar keine Mühe machen, ich soll ganz ruhig bleiben, mich durch sie gar nicht stören lassen – sie begreift aber nicht, daß das Wenige was sie ihrer Meinung nach fordert, das ganze Haus in Bewegung setzt – Sie liegt bis 2 Uhr zu Bette und leidet viel am Herzen, im Kopfe – und will sich bald mit diesem, bald mit Jenem, Erleichterung verschaffen – heute war Schönlein zum erstenmahl bei ihr – der wird hier bestimmte Order geben und den augenblicklichen Einfällen steuern – Sie ist keine ungedultige Kranke, still und sanft wie ein Engel, aber sehr entschieden in dem was sie will, und keinen Widerspruch gewöhnt – Ich habe mich nun drein gefunden, Gott hat mir diese Kranke ins Haus geschickt und so will ich denn nur allein für sie leben, so lange sie meiner bedarf (Sie übergab mir alles – was ich bei ihrem Tode thun soll –) Eigentliche Pflege bedarf sie nicht von mir, das alles besorgt die Jungfer – nur das Herbeischaffen macht viel Laufens, so daß ich aller Bedienung entbehre; Neu aber habe ich eine Aufwärterin angenommen und hoffe es soll sich mein Haushalt wieder ordnen. Ich lasse nun auch das Essen für sie aus dem Speisehaus holen – zu meiner Erleichterung – Ich will mich, das verspreche ich Euch nicht für sie aufopfern, aber sie lieben und für sie leben – Die ersten Tage haben mich ihre Mittheilungen die Lebhaftigkeit ihrer Erzählung und das grauenhafte Bild dieser russischen Zustände, die Gefahr in der sie schwebt, die tiefen Leiden dieser Schwergeprüften sehr aufgeregt. Es lag die ganze Last dieser Schmerzen mir auf dem Herzen – Aber nun weiß ich alles und nun ordnet sich auch alles in und außer mir – so daß ich schon wieder zur Ruhe komme, und mich in den neuen Stand eingewöhne – die Vertraute und Pflegerin einer unglücklichen Fürstin zu seyn.

Dein Brief lieber Manu der mir den Verlust den Flottwells erlidten haben7 meldet, hat mich sehr bewegt – Versichere dem theuren Herrn Ober Praesidenten und die ganze Familie meine innigste Theilnahme – Ein Kind ist ein Theil unserer eigenen Herzens! – aber erinnere sie an die Worte des Vaters die er mir bei dem Verlust eines Kindes gesagt, „wir müßen bei dem Verlust den Dank festhalten, das uns Gott dieses Kind geschenkt hat und daß wir es so lange besessen“.8

Deine Geschäfte in Merseburg haben nun wohl schon wieder ein Ende – ich schicke meinen Brief nach Magdeburg und bitte ihn mit umgehender Post Karl zuzuschicken.

Ich erhielt Eure beiden Briefe an einem Tag – Gottlob daß sie so viel des Guten, das mein Mutterherz sich getrösten kann, enthalten – Wie freu ich mich daß es Dir lieber Karl! in diesem Winter im Kreis Deiner Freunde so wohl geht, das Du mit erhöhter Freudigkeit nun wieder fortarbeitest, liest und schreibst –

Ich sollte der Lieben Docter Dubbe antworten danke ihr einstweilen für ihren lieben Brief und grüße mir die lieben Hoffmanns, Röpers Magister Karsten herzlichst.

Wir schicken Morgen eine der Schwestern vom Krankenhaus, Antonia, nach Hamburg Amalie Liebeking begehrte eine Diaconissin für die Pflege von 14 kleinen kranken Kindern – ich will ihr einen Brief an Wichern mitgeben.

Ich lege Euch ein Billet9 der Fürstin Gallizin bei das sie mir schrieb nach ihrem ersten Besuch, woraus Ihr seht wie sie zu mir steht – und auch von unserer lieben Thekla den Brief10 der Thekla schick nicht nach Rostock. – Die Lieben haben schwere Zeiten durchgemacht – aber das alles wird so still und ruhig abgemacht – in welcher Liebe halten sie zusammen! – O mein liebes Nürnberg! wie nahe war es mir und wie ist es mir jetzt wieder so fern gerückt. Nun weiß ich warum ich die Wohnung nicht kündigen durfte und warum ich noch mehr Kummer habe als ich für mich allein brauche –

Wie dankt es mir die liebe Gallizin – wie erquickt sie die Ruhe und Stille und meine Liebe und Theilnahme! Ja ich danke Gott der mir dieß liebe arme Herz zugeführt hat. Ich gewinne sie täglich lieber – Nur will sie sich auf mich allein beschränken, sie läßt selbst ihre Cousine Schlieffen nicht vor –

Daher bekommt ihr erst von diesem Stück das schon 8 Tage bei mir spielt, den erste Bericht und nun kann ich auch mehr davon sagen als den ersten Tag, an dem mein Herz gedrückt und zu bewegt und in äuserlichen Sorgen zu sehr in Anspruch genommen war, um zu schreiben.

Lebt wohl Ihr Liebsten! Schreibt mir bald. Meine Gedanken sind fort und fort bei Euch!

Gott sey mit Euch und Eurer Mutter