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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 15. März 1872

Lieber Manuel!

Anna’s Brief von gestern Abend ist als Taube der frohen Botschaft unseres Hauses zu Euch voraus gegangen. Unser junges Luischen ist seit gestern glückliche Braut! Schon seit einigen Wochen sahen wir mit einiger Bangigkeit der Entscheidung entgegen. Es war nicht unsere Wahl. Mein College Lommel, Physiker und Mathematiker, ausgezeichnet in seinem Fach und ein trefflicher Lehrer, ein gereifter Mann, der in den nächsten Tagen sein 35. Lebensjahr vollendet1, faßte eine tiefe Zuneigung zu unserer Tochter, die sich bei aller Zurückhaltung von seiner Seite doch uns und Anderen deutlich zeigte. Wir haben bis in die letzten Tage keinen Schritt gethan, den er günstig für sich deuten konnte. Allein unser Luischen merkte noch besser als wir, was in ihm vorging, und gewann ihn unversehens herzlich lieb. Wir ermahnten sie ernstlich mit sich zu Rathe zu gehen und besonders das zu bedenken, daß sie in der Vereinigung mit ihm, dem nahezu 16 Jahre älteren Mann, ein wesentliches Element innerer Lebensgemeinschaft, das religiöse und kirchliche, für immer entbehren würde, da er, wenn auch nicht dem katholischen Glauben zugethan, doch der katholischen Kirche angehört. Allein sie war und blieb entschieden, und wir fanden uns weder gewillt, noch berechtigt, ihrer Herzenswahl entgegenzutreten und vielleicht ihr Lebensglück in früher Jugend zu zerstören.

Lommel ist geborener Pfälzer, hat das Gymnasium zu Speier besucht, seinen Vater, Arzt in Edenkoben und Hornbach, ebenso die Mutter früh verloren; ein Bruder hat eine Apotheke in München. Dort hat er selbst seine Studien gemacht, war Lehrer in Schwyz, Professor am Polytechnicum in Zürich, an der landwirthschaftlichen Anstalt in Hohenheim, von wo er hieher kam: einen abermaligen glänzenden Ruf nach Zürich hat er abgelehnt. Er ist ein Mann von vortrefflichem, sittlichem Character, allgemein geachtet und von zahlreichen Freunden geliebt, von ruhiger, gleichmäßiger Stimmung, verständig und klar, ein liebenswürdiges Gemüth, von vielseitiger Bildung. Dem anderen Geschlecht gegenüber bewies er immer große Zurückhaltung, so viel auch die Frauen seiner Freunde sich bemühten, ihm zu einer Lebensgefährtin zu verhelfen. Unser Luischen ist seine erste Liebe. Es ist wunderbar genug, daß die Beiden sich gefunden haben, aber es ist so, und wir wollen es dankbar als Gottes Fügung hinnehmen.

Ich lege die Verlobungsanzeige bei, die wir heute ausgesandt haben.2 Eine Photographie wird später folgen.

Du hast doch den Brief3 erhalten, den ich vor etwa 10 Tagen an Dich schrieb? Ich bat um einen Preiscourant der Gypshandlung von Eichler oder einem andern. Luischen wünscht zu ihrem Geburtstag4 einen Apollokopf – ich denke nicht, um ihn mit ihrem schwarz bebarteten Geliebten zu vergleichen, aber sie wünscht ihn und die Sache hat Eile. Willi kann ihn unter Umschlag offen senden, damit ich die Bestellung direct mache. Auch das Geld, was Du für mich verwahrst, kann ich brauchen.

Wem soll ich die Verlobungsanzeige in Berlin noch schicken? Ich weiß es nicht. Die alten Freunde wissen nichts von meinen Kindern. An Theodor in Potsdam werde ich sie senden, Adalbert und Hermann – die anderen Flottwells, weiß ich nicht zu finden.

Seid Alle herzlich gegrüßt von uns Allen!

In treuer Liebe
Dein Bruder Karl.