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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Magdeburg, 4. Juni 1844

Lieber Karl!

Ich stelle mich zu Deinem Geburtstage1 mit meinen Grüßen ein und wünsche Dir von ganzem Herzen einen frohen Tag und ein frohes zufriedenes Jahr; vielleicht bescheert es Dir das Glück, das mir zu Theil geworden ist, und wir wollen dann nicht minder jubeln als Du Dich über unser Glück2 gefreut hast. Deine kleine Schwägerin ist sehr betrübt darüber, daß sie Dir nicht selbst zu Deinem Festtag ihren Glückwunsch schreiben kann: sie ist krank und liegt im Bett, hat mich aber beauftragt, Dich herzlich zu grüßen und Dir alles Freundliche zu Deinem Geburtstage zu sagen, Dir auch auszusprechen, wie sehr sie hofft und sich darauf freut, Dich recht bald in Berlin wiederzusehen. Seit Pfingsten3 leidet die liebe Friederike an rheumatischem und nervösem Zahnweh, welches ihr ganzes Nervensystem äußerst angegriffen, und ihr heftiges Kopfweh und krampfhaftes Erbrechen verursacht hat; sie hat in diesen Tagen viel ausgestanden, befindet sich aber heute nach längerer Transpiration und erquicklichem Schlaf viel besser und hat mir vorhin auf das freundlichste mit klaren Augen von ihrem Bette zugelächelt. Fieber hatten sich nicht eingestellt, auch war ihr Zustand nicht gastrisch und wird nun wohl jetzt rasch zur völligen Herstellung fortschreiten.

Wie mir täglich das liebe Mädchen mehr ans Herz wächst, wie wir uns immer mehr zusammenleben, wie mit der tieferen Kenntniß ihrer Natur die Innigkeit und Kraft meiner Liebe täglich zunimmt, das wirst Du alles künftig in gleicher Lage mehr verstehen, als Du es jetzt vermagst. Ich wünsche Dir dann, daß es Dir ebenso wie mir jetzt gestattet sein möge, so ungestört und so nahe mit der Braut zusammenzuleben. Im Flottwellschen Hause bin ich jetzt ältester Sohn und Hausvater; den Mittag, Nachmittag und Abend verlebe ich mit kurzen Unterbrechungen dort täglich, und erfreue mich auf diese Weise des schönsten Familienlebens. Von den übrigen Menschen sehe ich dagegen Niemand, wenn sie nicht zu Flottwells kommen, und suche bei frühem Aufstehen des Vormittags meine Arbeiten zu bewältigen. Meine Stimmung kann ich nicht beschreiben: es ist wesentlich die innerste Zufriedenheit mit einer träumerischen Sorglosigkeit. Welche Veränderung wird sie aber erleiden, wenn Friederike mit allem fortzieht und mich in dem öden Magdeburg allein zurückläßt! – der Umzug4 wird sich wohl bis Ende Juli verzögern, da Bodelschwingh die Wohnung noch immer nicht geräumt hat und noch kein Quartier für sich gefunden. – Elise leidet noch immer an ihren Beklemmungen und gebraucht jetzt warme Sohlbäder; Mariechen und die Mutter sind beide wohl.5 Von Clara kommen die erfreulichsten Nachrichten; sie schreibt Briefe an die Mutter, welche keine Spur von Aufgeregtheit zeigen; vorgestern ist sie mit Göschens in Rosenthal bei Leipzig spaziren gegangen und sobald nur Alles im Haus wohl ist, wollen die Mutter, Friederike und ich nach Leipzig hinüberfahren, um sie zu besuchen. Doch muß sie noch immer vor Aufregungen sehr gehütet werden, und wird die Anstalt erst im Juli verlassen können, um dann sogleich nach Berlin zu gehen. Der Vater hat sie schon vor 3 Wochen in Leipzig besucht und sie zwar aufgeregt, aber ganz verständig und heiter gefunden.

Der Vater ist am Tage vor Himmelfahrt Christi6 nach Berlin abgegangen; in den letzten Tagen vor seiner Abreise wurde er noch durch viele unerwartete Beweise der Theilnahme und Anerkennung erfreut; die Schützen hier (geringe Bürger und Kaufleute) brachten ihm mit Musik einen silbernen Pokal; die Kaufmannschaft einen prachtvollen Fackelzug, wobei der schöne Dom durch farbige Flaum (blau, roth, weiß) abwechselnd auf das herrlichste beleuchtet wurde; die städtischen Behörden von Magdeburg überreichten ihm das Ehrenbürgerrecht in einem schönen Diplom; die Verwaltungsbehörde schenkte ihm ein Gemälde, welches vom Fürstenwall aus den Dom, das Regirungs- und das neue Ober-Präsidialgebäude mit dem Garten darstellt. Er schied mit schwerem Herzen aus seinem Wirkungskreis, welcher nach seinem eigenen Geständniß so ganz seiner Persönlichkeit zusagt, und ging mit Sorge dem neuen Beruf entgegen. Mit diesem hört nun der unmittelbare Verkehr mit den Behörden, Gemeinden, Bewohnern der Provinz, die directe persönliche Einwirkung mit genauer Kenntniß des Orts und der Personen auf, was ihm gerade so viel Befriedigung gewährte. Er hatte die Ueberzeugung, daß er in seiner neuen Stellung nicht eine vollkommene Befriedigung und Genugthung erreichen werde, welche er hier gehabt hat, und mußte voraussehen, daß er leicht in Verwicklungen dort gerathen und einen Widerstand bei seinen Unternehmungen begegnen werde, welche ihm leicht die Freudigkeit in seiner Thätigkeit rauben dürften. Zu Pfingsten kam er auf 3 Tage zum Besuch hierher und war sehr heiter, sprach sich sehr befriedigt aus über die Theilnahme, welche ihm von allen Seiten bei dem Antritt seines neuen Amts geäußert wurde, über das herzliche Entgegenkommen seiner Kollegen und der Mitglieder seines Ministeriums, die Wichtigkeit und die Bedeutung der ihm obliegenden Geschäfte haben ihn ergriffen und er fühlte sich gehoben durch die Höhe seines jetzigen Standpunktes. Gleichzeitig waren auch anwesend der Regierungsrath Trinkler aus Merseburg, und der älteste Sohn, jetzige Stadtrath und Syndikus in Elbing, Eduard, meine beiden künftigen Schwäger; der letztere ein starker Liberaler, aber ein gutmüthiger, behaglicher und aufrichtiger Charakter.

Flottwells Nachfolger in Magdeburg wird wahrscheinlich der jetzige Director im Ministerium des Innern, früher hiesiger Regierungsvice-Präsident von Wedell werden; ein tüchtiger Geschäftsmann, rechtlich, sans façon7, sehr behaglich, aber ohne höhere Bildung, sehr 8 und ein starker Aristokrat. Von ihm wird es abhängen, ob ich meine jetzige Stellung beim Ober-Präsidium behalte; auch ein neuer Regierungs-Vice-Präsident kommt hierher. Vor einigen Tagen war Minister Graf von Arnim hier; er gefiel durch seine angenehme leutseligen Formen, auch sprach er in der Sitzung sehr verständig; gegen mich war er, wie gegen die Andern sehr freundlich und hat mit mir nicht, wie ich besorgte, von Zensur-Angelegenheiten gesprochen.

Auch Marheineke sprach ich hier vorgestern auf der Rückreise von Hildesheim, ebenso besuchte mich König, Baurath früher in Arnsberg, welcher jetzt die Cöln-Mindener Bahn baut. – Die Freunde in Rostock grüße freundlichst, nemlich Wunderlich, Ackermann, Karsten, Röper etc.

Leb wohl Dein treuer Bruder Immanuel.

P. S. Deine Brosche trägt Friederike fast täglich zu Deinem Andenken.