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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 22. September 1880

Lieber Manuel!

Gewiß habe ich Dir schon anno 1820, dem 6jährigen, meinen brüderlichen Glückwunsch gebracht und so fort seitdem alle Jahre, so daß Du von mir nun schon mehr als 60 Glückwünsche zählst1: zu disen sei also heute in der schönen runden Jahreszahl, von welcher Gervinus in seiner Einleitung zur Geschichte des 19. Jahrhunderts2 große Dinge erwartete, der neueste, aber hoffentlich noch lange nicht der letzte, hinzugefügt. Du kannst immerhin, gleichwie auch ich, von Glück sagen, daß Dir so viel im Leben gelungen ist, wenngleich von der hohen Warte unseres Lebensalters aus betrachtet, alles nur als mangelhaftes Stückwerk erscheint. Wenigstens vor Irrwegen werden wir hoffentlich ferner bewahrt bleiben, und so möge Dir noch manches gelingen und Dir noch manche Lebensfreude erblühen!

Deinen letzten Reisebericht aus Magdeburg habe ich mit Dank empfangen3 und mit vielem Antheil daraus ersehen, wie weit Ihr noch am Rhein und an der Mosel herumgekommen seid und die hochinteressanten Städte Metz und Trier mit der angenehmsten Begleitung besucht habt. Dies liegt nun schon für Euch weit dahinten, wie für mich die schöne Schweizerreise, von der ich Dir zuletzt aus Interlaken berichtete.4 Unser 10tägiger Aufenthalt daselbst war sehr genußreich und belebend. Ich weiß nicht, ob ich Dir schon von unserem herrlichen Ausflug nach dem Höhepunkt von Mürren geschrieben habe, von wo wir das großartigste Alpenpanorama mit Jungfrau als Mittelpunkt überblickten. Einen anderen Ausflug machten wir nach dem Gießbach, wo wir übernachteten und den Wasserfall in bengalischer Beleuchtung betrachteten. Dann kehrten wir über Bern nach Luzern zurück und verweilten zwei Tage am Vierwaldstättersee in Bernried und stiegen zu Fuß nach Selisberg hinauf und sahen von dort den See an seinem letzten Ende bis Flüelen und uns gegenüber Schwyz und die Mythenstöcke. Ihr kennt gewiß diesen schönen Punkt. Wir kamen nicht mehr auf den Rigi, der ganz in Wolken verschleiert war, als wir an ihm vorüberfuhren; ich hätte ihn sonst gern Mariechen gezeigt; mit meiner lieben Susanna war ich zuletzt dort, wo sie auf Rigikulm schon an Athembeklemmungen litt. Sehr schön war auch die Überfahrt über den Bodensee und ein Tag und Mondscheinabend in Friedrichshafen. Den Ulmer Münster ließ ich Mariechen noch sehen, wie im vergangenen Jahr dem Sophiechen.

Beide lieben Töchter haben mir in den letzten zwei Wochen viel Herzenssorge bereitet. Marie hat sich einem jungen Manne, der mir als Schwiegersohn erwünscht gewesen wäre, auf seine Bewerbung um ihre Liebe und Hand kurzweg und ganz entschieden versagt; Sophie dagegen ihre Herzensneigung auf einen andern gerichtet, den ich um ihres Lebensglücks willen nicht annehmen kann. Dieser letztere ist ein junger Lieutenant, Kamerad und Freund von Georg, den ich ein paarmal eingeladen, aber sonst nicht ins Haus gezogen habe, mit dem sie sich häufig beim Tanzvergnügen und im Winter auf dem Eise begegnete. Ich kann meine Tochter nicht überwachen und leiten wie eine Mutter; zu spät bin ich gewahr geworden, daß diese häufigen Begegnungen, die ich freilich mit Mißfallen bemerkte, einen tieferen Eindruck bei meinem Sophiechen hervorgebracht haben. Da bin ich nun eingeschritten und habe ihr klar gemacht, daß an eine Verbindung und vorläufige Verlobung auf die Dauer von mindestens 12 Jahren, bis der junge hübsche Lieutenant es zum Hauptmann gebracht haben wird, gar nicht zu denken sei. Das sieht sie nun wohl ein, läßt aber betrübt das Köpfchen hängen. Ich werde sie wohl auf eine Zeitlang von hier entfernen müssen. Mein gutes Mariechen aber ist froh gestimmt, befriedigt im häuslichen Wirken, will ihren alten Vater, der sie sehr lieb hat und kaum entbehren könnte, nicht verlassen und wird, wie es scheint und wie mir schon meine liebe Susanna einmal auf ihrem Krankenbette sagt, – gar nicht heiraten. Und doch hat sie einem vortrefflichen, hoffnungsvollen und in jeder Beziehung annehmbaren jungen Manne eine tiefe Neigung abgewonnen, obwohl sie ihm nicht im geringsten entgegengekommen ist! Ich stehe wie vor einem Räthsel!

Ich erwarte am Ende dieser Woche den Besuch der Familie Klein, welche einige Wochen in meinem Hause während und bis zu ihrer Übersiedlung nach Leipzig in meinem Hause verweilen wird; Anna war seit dem Tode ihrer lieben Mutter nicht mehr bei uns; jetzt kommt sie mit ihrem Mann und 2 Kindern; letztere bleiben bei uns, bis sie ihr Haus in Leipzig eingerichtet hat. – Mit herzlichen Grüßen an die liebe Clara und Clärchen.

Dein Bruder Karl.