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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 30. Mai 1879

Lieber Karl!

Deinen lieben Brief vom 27sten vorigen Monats1 nach Deiner Rükkehr in die Heimath2 hätte ich schon längst beantworten sollen. Mein Leben wird aber immer anstrengender und unruhiger, so daß ich nach vollbrachter Tagesarbeit gewöhnlich nicht noch fähig bin, einen Brief zu schreiben. Es hat sich auch in dieser letzten Zeit Vielerlei gedrängt, sowohl in als außer dem Hause. Meine Schwägerin Pauline kam aus Danzig mit der ältesten und der jüngsten Tochter; die letztere übergab sie hier der Pension zur höheren Ausbildung; für die erstere, eine Braut, die im Herbst Hochzeit machen will, besorgte sie die Ausstattung. In dieser Woche kam Ella mit ihrem Töchterchen auf der Durchreise von der Ukermark nach Dresden zu ihren Eltern, und ist dafür von ihrem Gatten, Adalbert geleitet worden, der sich von den Anstrengungen des Reichstags erholen will. Der Zollkampf wogt in den einzelnen Tarifsätzen hin und her; am meisten hinter den Koulissen und das Resultat ist noch sehr zweifelhaft; sogar der Tabak3 hat so viel Freunde, daß er anscheinend mit einer blauen Haut davon kommen4 dürfte. Die Liberalen sehen schwarz in die Zukunft; ihre Furcht scheint mir übertrieben zu werden, wenn auch unverkennbar eine reaktionaire konservative Strömung die Herrschaft gewinnt; das ist aber doch noch sehr ferne von einem entschiedenem Umschwung. Ein solcher würde aber allerdings eintreten, wenn der Kulturkampf beendet werden sollte. So sehr dies jedoch von beiden Seiten erstrebt wird, so glaube ich doch nicht an einen ernsten Frieden, ehe er wirklich da ist. Dann wird auch Willys bischöfliche Gewalt in Paderborn ein Ende haben und er das Weite suchen müssen. Jedenfalls war es eine interessante und lehrreiche Periode in seinem Leben. Wir hoffen ihn Ende Juni hier auf einige Tage zu sehen, da er der Hochzeit seines Freundes Dr. Schnonardt in Görlitz beiwohnen will.

Unser Klärchen haben wir heute zur Eisenbahn befördert, da sie die Frau Pastorin Emma Menzel in Kalkwitz in der Nieder-Lausitz auf 8 Tage besuchen wird. Die arme Frau ist Wittwe geworden und wird nun nächstens die Pfarre verlassen. Wir, die beiden Alten, dagegen wollen auf Einladung wieder unsere Pfingsterholung5 bei Knoblauchs zu Pessin im Havelland suchen und werden morgen dahin fahren, jedoch schon am Dienstag wieder zurükkehren. – Auch die weiteren Sommerpläne haben sich etwas bestimmter gestaltet. Mein Arzt räth mir zur Abhülfe der katarrhalischen Beschwerden dringend die Kur in Ems, und da der Aufenthalt dort auch sehr anmuthig ist, so denke ich, so Gott will, mich mit Clara im Juli dorthin auf einige Wochen zu begeben. Inzwischen ist uns abgesehen von diesem Projekt, unser Klärchen von Marie Trinkler zu ihrer Begleitung nach Wernigerode im Juli eingeladen und wir haben dieses freundliche Anerbieten gern angenommen, womit damit auch Marie selbst, welche sonst ganz einsam wäre, ein Dienst erwiesen wird und beide, einem anspruchslosen Stillleben zugeneigt, sich gewiß gut zusammenfinden werden.

Die nächsten Wochen werden uns große Bewegung bringen, vor allem das Kaiser-Hochzeits-Jubiläum.6 Es ist wunderbar, daß auch noch diese Feier dem hohen Herrn vergönnt ist, wie er auch jetzt die Frühjahrsparaden mit sichtlichem Vergnügen zu Pferde, wie vor Alters, abgehalten hat. Dazwischen fällt dann noch unsere Berliner Pastoral-Konferenz, die wenigstens die Kirchenleute, wie unser Eins, sehr in Anspruch nehmen wird.

Das Frühjahr ist plötzlich in voller Pracht hervorgebrochen und wird auch Eure Gärten und Berge freundlich schmüken. Hoffentlich könnt Ihr es ohne leibliche oder häusliche Hindernisse genießen. In solchem anmuthigen Kleide würde auch Berlin und besonders Potsdam sich der lieben Marie noch besser vorgestellt haben. Wir senden ihr freundliche Grüße mit dem herzlichen Wunsche, daß sie uns ferner in gutem Andenken behalten möge.

Clara trägt mir viele herzliche Grüße an Dich und alle Deine Kinder auf, mit denen ich eingeschlossen zu werden wünsche.

In herzlicher Liebe
Dein Bruder
Immanuel