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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 19. September 1870

Stimmung gegen Preußen – Hegels Briefwechsel – Straßburg1

Lieber Manuel!

Gestern erhielt ich Deine persönliche Erklärung.2 Sie war offenbar eine notgedrungene; sie ist einem leidenschaftlichen Gebahren gegenüber ruhig, überlegen und nachdrücklich. Der eingewurzelte Particularismus und Preußenhaß geht mit dem gehässigen Eifern gegen die Union zusammen, in welchem letzteren das eigenthümliche Leben des Lutherthums unserer Tage hauptsächlich sich zu bekunden strebt. Ich meine das Lutherthum der Theologen, denn die Gemeinden wissen nichts von solcher Feindschaft, wenigstens hier bei uns nicht das mindeste, ebenso wenig wie in Mecklenburg wo auch eine rein lutherische Kirche besteht. Ich werde Deine persönliche Erklärung gelegentlich meinen theologischen Collegen Thomasius und von Zezschwitz mittheilen, falls sie sie noch nicht gelesen haben; besonders dem letzteren gönne ich sie.

Was die Abneigung und den Neid gegen Preußen betrifft, so sind sie fühlbar im Abnehmen begriffen, seitdem man durch den gegenwärtigen über alles Erwarten glorreichen Feldzug aufs neue davon belehrt worden ist, daß der preußischen Macht, Intelligenz und Disciplin unbestritten die Führerschaft in Deutschland zuerkannt werden muß. Überdies ist Bayern mehr als befriedigt durch den eigenen Antheil des Ruhmes, welcher in unseren Zeitungen, wie mir scheint, sehr über die Gebühr verherrlicht wird und die Prätensionen3 ehr zu steigern als herabzustimmen geeignet ist. Minister Delbrück wird davon in München jetzt die Erfahrung machen und eine Probe dieser Art gab ein anscheinend offiziöser Artikel in der Augsburger Allgemeine Zeitung vom letzten Sonnabend den 17. September über die Bedingungen, unter welchen Bayern sich dem Deutschen Bund4 anschließen könnte; natürlich wird auch Würtemberg Ähnliches verlangen; ich erwarte nicht, daß Bismark sich darauf einlassen, der König von Preußen die gewohnte Großmuth so weit treiben wird.

In unserem stillen Winkel hier war es uns leider nicht vergönnt durch eigene Anschauung von jubelnden Truppendurchzügen und stolzen Gefangenentransporten mächtig anziehende Eindrücke von dem Wesen dieser großen Zeit zu gewinnen. Nur Verwundete bekommen wir auch hierher, zuerst von dem Schlachtfeld von Wörth meist Franzosen und eine Anzahl Turecs Tuaregs, wenige Preußen und Bayern, gestern und heute lauter Bayern von Sedan. Doch auch der Jubel von Sedan5 ist natürlich bis zu uns gedrungen.

Hoffentlich hast Du weitere gute Nachricht von Willi bei Metz erhalten. Es ist doch sehr beruhigend, ihn dort in einer gewissen Sicherheit zu wissen, da der in seiner Höhle eingeschlossene Bär keine neuen Angriffe mehr zu wagen und die Ereignisse nur abzuwarten scheint. Willis anziehenden und gut geschriebenen Bericht unter der Überschrift Göttingen hatte ich bereits in der Kreuzzeitung erkannt und gelesen, als wir die Nummer von Dir zugesendet erhielten. Hoffentlich werden ihm unterdessen auch die wärmeren Kleidungsstücke, die Ihr ihm schicktet, zugekommen sein und sie waren bei det fortdauernd nassen und kalten Witterung gewiß sehr nöthig.

Michelets Einladung zum improvisirten Hegelfest lege ich bei.6 Du hast gewiß Recht gethan Dich ihr nicht ganz zu entziehen und ebenso, Dich nicht bloß schweigend dabei zu verhalten. In den Berliner Zeitungen habe ich nur einen kurzen und ganz unverfänglichen Bericht in der Kreuzzeitung gefunden. Doch weiß ich nicht, ob nicht die Volkszeitung etwas darüber gebracht hat, da ich sie gewöhnlich nicht ansehe.

Die beiden Photographien sind mir von Schauer auf Deine Bestellung zugeschickt worden. Das Brustbild ist, wie Du schon schriebst, recht befriedigend ausgefallen, nicht so das vollständige Bild. Ich bitte Dich die Rechnung für mich zu bezahlen, womit Herr Schauer zugleich erfährt, daß die Bilder gut angekommen sind. Es freut mich, daß die Gräber7 unserer theuren Eltern an dem Festtage von Euch schön geschmückt worden sind, woran ich meinen Antheil gleichfalls in Anspruch nehme.

Von Rosenkranz erhielt ich vor 8 Tagen ein Schreiben8, worin er sich nach der Edition des Briefwechsels erkundigte und zugleich noch etwas Neues anregte, durch Köstlin in Tübingen dazu veranlaßt. In Rosenkranz‘ Biographie9 sind einige Auszüge aus einem Aufsatz über die Verfassung Deutschlands10 gegeben, welche auf das Ganze, wiewohl auch dieses nur Fragment ist, begierig machen.11 Die Bekanntmachung desselben würde sich gewiß verlohnen. Rosenkranz fordert mich nun dazu auf, und ich bin mit Freude darauf eingegangen, d. i.12 vorläufig nur auf die Idee, da ich die Schrift selbst erst kennen muß. Denn im Fall sie zur Veröffentlichung geeignet ist, würde sie sich sehr gut an das Übrige aus dem Nachlaß anschließen.13 Sei also so gut und hole noch einmal die Kiste mit der schriftlichen Hinterlassenschaft vom Boden, um mir das Stück herauszusuchen; was Rosenkranz gehabt hat, ist ja wohl besonders zusammen gelegt und bald zu finden.

Mit dem Briefwechsel bin ich übrigens noch nicht über die Vorbereitungen hinausgekommen und es ist gut, daß er jetzt noch nicht erschienen ist. Ich wünschte noch einiges Andere herbeizuschaffen, namentlich die Briefe an Paulus, welche Reichlin Meldegg in Paulus‘ Leben14 zum Theil abgedruckt hat, erhielt aber von diesem, an welchen ich mich deshalb wandte, einen kurzen und schnöden Abschlag; ich erkundigte mich ferner in Frankfurt vergeblich nach Carové‘s Hinterlassenschaft; ich beabsichtigte an Barthélemy-St. Hilaire in Paris zu schreiben wegen der Briefe an Cousin, dessen Nachlaß in seinem Besitz ist, habe aber leider die rechte Zeit vor dem Kriege versäumt. Die Hauptsache aber war, daß ich vom Frühjahr an bis jetzt mit meinem 2. Band Straßburg15 scharf unter der Presse war und alle meine freie Zeit für diese dringende Arbeit zusammennehmen mußte. Jetzt hat es damit freilich auch keine Eile, da der Verleger den Band doch erst später veröffentlichen will, bis der Krieg vorüber und Straßburg, so Gott will, wieder eine deutsche Stadt geworden ist. Du kannst Dir denken, welchen nahen Antheil ich an dem entsetzlichen Schicksal von dieser nahm, deren Vergangenheit ich besser als irgendein Anderer kenne, deren literarische Schätze ich ausgebeutet und damit zu einem freilich sehr geringen Theil vielleicht allein gerettet habe. Doch noch kann ich es mir nicht als möglich denken, daß man nicht wenigstens die kostbarsten Handschriften sicher vor der Zerstörung geborgen haben sollte!

Die Historische Commission wird bei alle dem auch in diesem Jahre am 1. October in München zusammenkommen.16 Ich begebe mich schon übermorgen auf die Reise, um auch noch etwas über meinen engen Winkel in die Welt hinaus zu kucken; bin ich ja doch jetzt ein ganzes Jahr lang still zu Hause gesessen und es ergreift mich endlich die Ungeduld. Ich will vorerst nach Frankfurt und Mainz und von dort nach Stuttgart und Tübingen, welches letztere ich noch nicht kenne, und bis zum 30. September in München sein.17

Seit 8 Tagen ist die Mimi wieder bei uns, nachdem sie ein Jahr lang aus dem Hause war. Anna ging ihr entgegen, beide blieben einen Tag bei der Tante in Schweinfurt. Anna consultirte auch Tröltsch in Würzburg, der leider ihren Zustand gar nicht günstig fand und noch eine Kur im October mit ihr versuchen will. Marie hat sich in ihrer Eigenart wenig verändert und ist auch kaum gewachsen, ihrer Mutter sehr ähnlich. Sie soll noch den Winter über in Friedrichsdorf bleiben.

Du willst wissen, was ich für Marie ausgelegt habe? Ich lege den Zettel bei.18 Auf das Hochzeitgeschenk hat Theodor noch mit keinem Wort reagiert; dafür bleibt uns die Zufriedenheit eines guten Gewissens. Das Hochzeitgeschenk für Anna in München steht noch bevor.

Ich komme dismal leider nicht, wie ich wollte, nach Berlin. Doch bleibt mein Besuch nur aufgeschoben. Bei der künftigen Siegesfeier in Berlin bitte ich Euch einen Winkel in Eurer Behausung für mich aufzusparen.

Ich lege die neueste Photographie von mir bei19, die von Susi hat Marie, wie ich glaube, schon mitgenommen.

Herzliche Grüße an Klara, Marie und Klärchen. Gebt uns bald Nachricht von Willi.

Treulichst
Dein Bruder Karl.