XML PDF

Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 1. November 1886

Lieber Karl!

Dein brüderlicher liebreicher Gruß1 zu meinem Jubeltage2 hat mich tief bewegt und ich danke dafür von ganzem Herzen. Bei dieser Jubelfeier stehe ich mit demüthiger Bewunderung und Verehrung der Gnade Gottes, die ich in meinem langen Leben zu allen Zeiten und nach allen Seiten hin in so reichlichem Maaße erfahren habe. Da muß ich in voller Aufrichtigkeit bekennen, daß ich vor Allem Seiner Bewahrung, Führung und Seinen Gnadengütern verdanke, wenn aus mir ein ordentlicher brauchbarer Mensch geworden ist. Daher ist mir auch die Menge der Anerkennung, die ich in diesen Tagen empfangen habe, kaum eine Versuchung zur Eitelkeit und zum Hochmuth; denn es war mir stets Friederikens Lieblingsspruch gegenwärtig: „Weißt Du nicht, daß Dich Gottes Güte will zur Buße leiten?“3 und diese Festtage haben mich noch tiefer in diese Wahrheit hineingeführt. Beim Rükblik in unsere Jugendzeit habe ich auch mit herzlichem Dank unseres brüderlichen Zusammenlebens gedacht; denn Du bist mir, der ich ein unruhiger flüchtiger Junge war, stets ein Vorbild der Ordnung, des Fleißes und des tüchtigen Strebens gewesen, mit dem ich zu wetteiferen angespornt wurde. Die goldenen Medaille des Vaters, die Du mir übereignet hast, wird mir ein theures Vermächtniß sein, welches ich nach Deiner Bestimmung auf meinen Sohn Willy vererben soll und das er gewiß als ein kostbares Andenken unserer Familie hochachten und bewahren wird.

Von allen Deinen Kindern habe ich auch freundliche Glükwünsche empfangen und ich bitte Dich, ihnen, jedem Einzelnen, meinen herzlichen Dank auszusprechen. Es ist mir nicht möglich, einem Jeden zu antworten; an Anna in Göttingen wird Clara schreiben. Ich bitte Dich auch, meine etwas verspätete Antwort zu entschuldigen; mein Jubiliren hat aber erst gestern Abend im Evangelischen Verein seinen Abschluß gefunden; es war dies verbunden mit dem Jahresfest des Vereins, das zuerst durch einen Gottesdienst in der St. Jakobi-Kirche und dann einem geselligen Theeabend in unserem großen Vereinssaal gefeiert wurde. Hier wurde ich dann auch mit Aussprechen und Zeichen des Danks überschüttet, es war aber doch ein schönes gemüthliches Fest; wie auch der Evangelische Verein ein außerordentlich dankbares Feld meiner Thätigkeit ist, welches in seiner reichen Ent- wicklung vom Herrn wunderbar gesegnet worden ist. Dabei steht aber mein Verdienst weit zurük, gegen die Frucht meiner treuen tüchtigen Mitarbeiter.

Die Zahl der Glükwunschschreiben und Telegramme geht in die Hundert; wie ich sie in der Hauptsache summarisch beantworte, muß ich noch überlegen; bei vielen ist es mir Bedürfniß aber persönlich zu schreiben, wozu ich neben meinen Amtsgeschäften nicht viel Zeit erübrigen kann. Zunächst habe ich aber den hohen und höchsten Personen, wie Kaiserin und anderen mehr, die mir zu meiner Feier besonders geschrieben haben, Dank sagen müssen. Vom Kronprinzen erhielt ich nachträglich noch ein Telegramm aus Kufstein.

Von meinen lieben Kinder und Schwägern bin ich sehr reich beschenkt worden; von ersteren mit einem schönen großen Teppich für mein ganzes Zimmer, der meinen leicht erkälteten Füßen sehr wohlthätig ist; von meinen Schwägern Theodor und Adalbert mit dem großen schönen Kupferstich der Hl. Cäcilia4 von Raphael, von meiner Schwägerin Pauline mit einer stattlichen Bronceschaale auf einer hohen Säule; von meiner lieben Clara endlich aber durch ein köstliches Album mit 16 reizend ausgeführten Blättern von Bildern von den verschiedenen Oertern, die in meinem Leben bedeutungsvoll gewesen sind. Die Freude und Liebe, mit der sie es von langer Zeit her vorbereitet und ausgeführt hat, die sie überhaupt in diesen Festtagen, welche auch für sie als Hausfrau sehr anstrengend gewesen sind, mir bewiesen, hat mich als die schönste Gabe in dieser Feier mit innigstem Dank bewegt. So war es ein in jeder Beziehung schönes harmonisches Fest, welches auch durch keinen Mißklang irgend welcher Art getrübt worden ist, und ich habe es, so sehr es mit großer Anstrengung verbunden war, mit dankbarer Freude überstanden; so daß ich immer nur meinem Gott in meinem Herzen Lob, Preis und Dank singen kann.

Außer Willy war auch mein Schwager Adalbert zur Jubiläumsfeier gekommen. Es wäre wohl sehr schön gewesen, wenn Du auch daran hättest Theil nehmen können. Ich beklage es von ganzem Herzen, daß Du durch das hartnäkige Augenleiden verhindert worden. Gott gebe, daß Du bald von dieser Last und Heimsuchung der Geduld befreit werden möchtest.

Ich füge den letzten Evangelischen Kirchen Anzeiger5 bei, der einen vollständigen Bericht von der Feier am Sonntag6 und Montag enthält. Die gestrige Feier im Evangelischen Verein kann erst die nächste Nummer enthalten.

Herzliche Grüße von Clara und Klärchen, die sich beide auch frisch und wohl erhalten haben. Bei Marie hat der kleine Rudi seit vorgestern die Masern bekommen; wir sind dankbar, daß nicht auf diese Weise mein Jubiläum gestört worden. Rudel hat mit dem Minister von Puttkamer nach Danzig reisen müssen; er kommt zurük am Donnerstag, muß aber am Freitag wieder nach Düsseldorf zu einer längeren Konferenz.

Nun zum Schluß mit treuen brüderlichen Wünschen

in dankbarer Liebe

Dein Bruder Immanuel