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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 23. Oktober 1870

Lieber Manuel!

Ich bin nun schon seit 14 Tagen aus München zurück und bereite mich auf die Ausarbeitung meiner solennen Antrittsrede auf Übernahme des Prorectorats vor.1 Ich habe nothwendig von den allgemeinen Zeitereignissen und dem Verhältniß unserer deutschen Hochschulen dazu zu reden, was allerdings ein sehr reichhaltiges Thema, aber doch auch nicht leicht ist, in angemessener Weise für den Zweck zu behandeln.2 Wir erwarten eine sehr geringe Studentenzahl, da die älteren meist fort sind als Freiwillige in den Waffen oder für die Felddiaconie oder für medicinische Assistenz in den Spitälern; nur auf die Füchse ist zu rechnen, und das sind die am wenigsten fleißigen.

Ich reiste nach Mitte des vorigen Monats von hier ab, als endlich das Wetter sich zum Besseren kehrte, halb und halb in dem Gedanken, die Zerstörung von Straßburg zu sehen, wenn die Capitulation erfolgt wäre. Doch kam ich nicht hin, weil die Übergabe sich bis Ende des Monats verzögerte und ich am letzten Tage von diesem in München sein mußte. Ich hielt mich 2 Tage in Frankfurt, 4 in Cannstadt und Stuttgart und 1 ½ in Tübingen auf. In Frankfurt ist die Umwandlung in eine preußische Stadt, soviel ich sehen konnte, durch diesen Gottgesegneten Krieg außerordentlich gefördert worden. Ich traf junge Frankfurter als preußische Gefreite im Theater und andere, die als reconvalescente Verwundete den Arm in der Binde trugen oder am Stock hereinhumpelten, einer davon das eiserne Kreuz auf der Brust. Auf der Pfingstweide war ein großes Barackenlager für die Verwundeten und an vielen Orten auf den Bahnhöfen und sonst sah ich Anstalten der freiwilligen Vereine; neben dem Barackenlager exercirten pommersche Soldaten, deren Regiment seinen Standort in Frankfurt hat. In Cannstadt hatte ich herrliches Wetter für Spaziergänge in der Umgegend, welche durch den Neckarfluß, durch den öffentlichen Park, der sich von Stuttgart her bis Berg erstreckt, durch die benachbarten Höhen, die königlichen und andere Villen auf diesen, reich an Abwechslung und an anmuthigen Fernsichten wie Nahsichten ist. Eine Pferdebahn führt in ¼ Stunde nach Stuttgart, wo ich meinen alten Freund Stälin besuchte und nach Kieser mich erkundigte, der wie Du wohl schon weißt, dort endlich eine Anstellung bei dem Centralverein für gewerbliche Industrie erhalten hat und vorerst wenigstens für seine Person, ohne die Familie, von Nürnberg übergesiedelt ist.

Ich traf ihn aber nicht, weil er nach Frankreich gegangen war, um seinen Sohn Guntram aufzusuchen, der als bayrischer Lieutenant bei Sedan gefallen war; Guntram hatte eine Wunde in den Hals bekommen, an der er wenige Tage später im Lazarett starb. Kieser hatte Grund an dem wirklich erfolgten Tode zu zweifeln, der sich jedoch leider bald bestätigte. Das väterliche Haus3 habe ich noch in der Dämmerung aufgesucht; es ist kein anderes als das welches mir schon früher gezeigt worden, nicht das eigentliche Geburtshaus, das nicht mehr aufzufinden war. Das Haus wurde eben abgeputzt – der Besitzer ist ein Bäckermeister; die Inschrifttafel soll erst nachher angebracht worden. Am interessantesten war für mich der kurze Aufenthalt in Tübingen, welches ich zum ersten Male sah. Die Seitenbahn4 geht von Plochingen ab bis Hechingen. Ich wohnte bei meinem früheren Collegen und Freund Julius Weizsäcker, der mich mit dem Kreise seiner Collegen und der deutsch nationalen Partei bekannt machte; auch der frühere Minister Staatsrath Rümelin gehört zu dieser, Römer war leider nicht anwesend. Die Schwaben sind, was sie sind, ganz, und so fand ich hier die Nationalen so gut preußisch wie mich selbst. Die Partei, vor dem Kriege sehr in der Minorität, hat durch diesen die Oberhand gewonnen, nur der König selbst hat sich zu Souveränitätsverzichtleistungen resignirt. – Straßburgs Fall wurde eben durch den ausgesteckten Fahnenschmuck gefeiert, und man erkannte überall die Zuverlässigen an den allein schwarz weiß rothen Farben5: sie verlangen Eintritt in den Nordbund ohne Umstände und Concessionen. Das mit Reben- und Laubwaldhügeln bekränzte offene Neckarthal ist höchst anmuthig von dem Schloß aus, wo die Bibliothek ist, zu überschauen. Etwas tiefer liegt das alte Stift, dessen innere Räume ich im Andenken an unseren Vater besichtigte. Ein schöner Weg führt über eine Stunde weit durch Wald und über die Höhe nach dem alten Kloster Bebenhausen, wo früher ein Seminar war, in dem Schelling unter väterlicher Leitung aufwuchs: es liegt sehr heimlich und abgeschlossen in einem reich belaubten Thalkessel. Ich lernte Köstlin kennen, einen etwas schwerfälligen Schwaben, der nicht nur die politischen sondern auch die philosophischen Versuche unseres Vaters gedruckt sehen wollte, wogegen ich mich mehr ablehnend als zusagend verhielt. Seitdem habe ich Deine Sendung erhalten und zugleich Deine Ansicht erfahren; ich werde mich erst später mit der Sache befassen können, doch jedenfalls in diesem Winter. Auf der Weiterreise von Tübingen nach München traf ich nach Verabredung mit Stälin in Plochingen zusammen und verweilte über Mittag in Ulm, dessen Außenwerke mit gefangenen Franzosen vollgestopft sind; ich sah davon auch in den Straßen und erfuhr von dem unverschämten Benehmen ihrer Offiziere. Abends war ich im Goldenen Bären, meinem gewöhnlichen Absteigequartier hinter Prinz Luitpolds Palais (dem vormaligen Leuchtenbergischen, wo ich mit Dir einst6 die schöne Gallerie sah). Die Commissionssitzungen dauerten 5 Tage7, abgerechnet den dazwischen liegenden Sonntag8, an welchem ich bei der Hochzeit9 war. Ich kam also gerade recht zu dem frohen Familienfest. Außer den Familiengliedern waren nur der alte Münchener Grundherr, mein Schwager Löffelholz, Christoph Tucher und Frau aus Kitzingen und der Vetter Theodor nebst Frau aus Leitheim, endlich mein College von Zezschwitz, der ein alter Freund von Mangelsdorf und ein jüngerer des Onkels ist, und ich zugegen. Zezschwitz war ebenfalls gerade recht von einer Reise aus Tirol zurückgekommen, um die kirchliche Trauung zu vollziehen. Sie fand in der protestantischen Kirche10 statt und das Mittagessen im Bayrischen Hof. Anna war heiter und glücklich; ihr ältester Sohn11, einen Kopf größer als sie, war auch Zeuge und stiller Theilnehmer des väterlichen Glücks. Onkel hielt eine bewegte Ansprache bei der Tafel und eröffnete damit die Reihe der Toaste. Um ½ 6 Uhr fuhr das junge Paar fort, auf dem Bahnhof in Erlangen wurde es am folgenden Mittag von den Meinigen begrüßt. Noch muß ich von unserem Hochzeitsgeschenk berichten. Leider war ich von der Wahl meines Schwagers Löffelholz so wenig befriedigt, daß ich mir gelobt habe, wenn möglich, mich nie wieder an einem gemeinsamen Hochzeitsgeschenk zu betheiligen. Zwei Bilder in Ölfarbendruck, nichtssagende sentimentale Morgen- und Abendlandschaften, konnte ich wenigstens noch mit eben solchen wirklichen Naturansichten vom Watzmann und Dachstein vertauschen. Nichtsdestoweniger erschien das Geschenk unansehnlich, wiewohl es mit den Goldrahmen 29 fl. Gulden kostete, wofür man ein Paar schöne Photographien oder Lithographien von Meisterwerken hätte haben können. Auf Dein Theil kommt 4 fl. 50 c. Kreuzer.

Die historische Commission war bis auf Droysen, der in der Regel ausbleibt, vollständig beisammen; Wilhelm Wackernagel ist uns durch den Tod entrissen. Ranke war wieder sehr frisch; von einer politischen Verstimmung habe ich nichts bemerkt. Im Gegentheil zeigte er sich sehr eifrig für die deutsche Sache, sprach auch dem bayrischen Minister von Lutz davon, der jetzt die Hauptstütze unserer Regierung ist – in meiner Gegenwart; der Minister betonte die finanziellen Schwierigkeiten, hauptsächlich beim Kriegsetat. Bayern geht nicht voran, sondern folgt gedrängt durch Baden und Würtemberg, um nicht isoliert zu bleiben. Man will sich entschließen die schlechte Kammer12 aufzulösen und hofft in dieser selbst einen Theil der Patrioten zu gewinnen; wenn das gelänge, so wäre es freilich mehr werth, als wenn man mit einer neugewählten überwiegend fortschrittlichen Kammer die Sache durchbrächte. In Würtemberg hingegen war die Auflösung der Kammer unerläßlich.13

Unser Mariechen ist vor 8 Tagen nach Friedrichsdorf zurück, bis Schweinfurt und Würzburg von meiner Frau begleitet. Susanna wollte sich nach unserer Anna umsehen, die bei meinem Freund Wegele gut aufgehoben ist, und mit Tröltsch reden. Die Kur hat noch keinen momentanen Erfolg gehabt, soll aber der Verschlimmerung in der Zukunft noch mehr vorbauen. Mittwoch14 erwarten wir Anna zurück; sie war im übrigen sehr vergnügt, hat auch Christoph und Paula in Kitzingen besucht.

Zur Vervollständigung meiner Sammlung von Zeitgenossen bitte ich Dich, mir die Photographien der famosen Demokraten Jules Favre und Gambetta zu schicken, wenn gute im gewöhnlichen Format zu haben sind.

Herzliche Grüße an Clara, Marie und Clärchen. Ich denke oft an Willi und bitte um weitere Nachricht von ihm; hoffentlich wird die Armee vor Metz bald frei; der Gefahr ist Willi freilich damit nicht überhoben. Susanna erwartet einen Brief von Clara.

In brüderlicher Liebe
Dein Karl.