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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 23. Juni 1872

Lieber Manuel!

Mit Freude vernahmen wir durch die liebe Clara, daß es Dir und Euch Allen wohl geht. Du erhältst Dich standhaft und rüstig unter allen äußeren Anfechtungen, bedarfst aber begreiflich der Erholung nach langer Arbeit und gedenkst, sobald es sein kann, die Sommerfrische aufzusuchen. Unsere Frauen haben alle Hände voll mit der Ausstattung zu thun und die Bräute sind und leben nur für den Geliebten und betrachten vorläufig die ganze übrige Welt als ziemlich überflüssig. Das Letztere ist bei uns umso mehr zutreffend, als der Geliebte am Ort ist und mehrere Stunden des Tages für sich in Anspruch nimmt, was zwar sehr schön ist, aber auch eine lange Dauer dieses erregten Zwischenzustandes keineswegs wünschens werth macht. Bei uns ist demnach die Hochzeit schon auf Anfang oder wenigstens vor Mitte des August festgesetzt1 und wir haben lebhaft gewünscht, Dich und Clara nach langer Zeit wieder einmal bei uns zu sehen, um die Freude des seltenen Festes zu erhöhen. Leider vereinigt sich dies jedoch nicht mit Euren Plänen und Claras Schreiben bringt uns die schmerzliche Abkündigung. Nun ist es freilich an uns Euer Ausbleiben dadurch wieder gut zu machen, daß wir selbst zu Eurem Hochzeitsfest nach Berlin kommen und wir sind auch des besten Willens, Eurer freundlichen Einladung dorthin zu folgen, wenn nur mir selbst nichts in den Weg kommt, was noch von der näheren Bestimmung des Termins abhängt2, wann ich im October in München sein soll; einstweilen halte ich jedoch an der Hoffnung fest, daß sich dafür ein Auskunftsmittel finden lassen wird. Ein ähnliches Zusammentreffen findet auch zu Anfang August statt, wenn das Universitätsjubiläum in München3 gefeiert wird, bei dem ich vielleicht als Vertreter der hiesigen Universität zugegen sein werde.4

Die Veränderungen an unserer Universität interessiren Dich vielleicht wenig, doch berühren sie uns immer auch in persönlicher Weise. Ein neuer College Rosenthal, Professor der Physiologie, mit Frau ist in diesem Semester eingetreten; sie sind aus Berlin gekommen, sind jüdischen Glaubens und Geschlechts, befreundet mit Lasker und dessen Kreise. Er gilt als sehr bedeutend in seinem Fach und gefällt hier, ebenso wie seine jugendliche, talentvolle und gescheidte Frau, durch anspruchsloses Benehmen.

Durch den letzten bairischen Landtag sind unsere Gehaltsverhältnisse, entsprechend wie die aller Beamten, aufgebessert worden. Dabei ist durch ein wunderliches Compromiß der Liberalen mit der sog. patriotischen Partei ganz Ungeheuerliches herausgekommen. Ordentliche und außerordentliche Universitäts-Professoren sind gewissen Beamten- und Gehaltsklassen in Pausch und Bogen5 gleichgestellt worden, so daß für die ersteren ein Gehaltsminimum von 2000 fl. Gulden, für die letzteren zu 1500 fl. festgesetzt ist; dazu kommen dann alle 5 Jahre mäßige Alterszulagen von 200 – 100 fl. In Folge dieser Bestimmungen, welche mit Rückwendung angewendet wurde, ist es geschehen, daß eine Anzahl Professoren mit langen Dienstjahren, welche seit lange nicht mehr gelesen oder sonst für die Universität nützlich gewesen sind, besonders außerordentliche Professoren, welche wegen Unfähigkeit nicht weiter gekommen, nun aber ein solches Lebensalter erreicht haben, sich völlig unverdienter Zulagen, in einzelnen Fällen bis zu 1000, ja 1600 fl. erfreuen durften, während die verdientesten höher besoldeten Lehrer leer ausgegangen sind. Da mein Gehalt, welches bei den noch sehr bescheidenen Verhältnissen in der Zeit, als ich eintrat, mit 1800 fl. zu den höchsten gehörte, und seitdem nur einmal auf 2000 florin erhöht wurde, so bekomme ich nur 400 florin als Alterszulage, was bei meinem jetzigen Hauhalt freilich nicht viel bedeuten will, aber doch immerhin angenehm ist.

Vorgestern besuchte uns Onkel Gottlieb bei Gelegenheit einer hier abgehaltenen Pastoralconferenz und des jährlichen Missionsfestes in Nürnberg; zugleich ist er auf dem Wege nach Simmelsdorf, wo er mit Frau und anderen Angehörigen den Sommer zubringen will, nachdem er im Frühjahr in Gersau am Vierwaldstätter See gewesen ist. Die Tante Thekla war viel leidend und ist fortwährend nervös angegriffen, während der Onkel sich noch ziemlich rüstig erhält. Die Leitheimer6 sind von San Remo am Mittelmeer unweit Nizza, wo Frida mit ihrer Tochter Susanna und dem Augenleidenden Sohn Friedrich den Winter zugebracht, wieder zurück: das Leben des zarten Jungen kann nur auf diese Weise gefristet werden, daß er jeden Winter im Süden sich aufhält. Unsere Tochter Marie war die letzte Woche bei uns zu Hause, da die gute Mutter, welche sie im Hauswesen unterstützt, zum Besuch von Carolina auf das Brockdorf’sche Gut Schnei bei Lichtenfels gereist ist. Auf Glockenhof war Scharlach bei den Kindern von Ferdinand, wodurch der Verkehr unter den Verwandten sehr gestört wurde. Es wird Eure Marie interessiren zu hören, daß Professor Schöne, den sie bei uns kennen lernte, sich vor einigen Tagen mit einem hiesigen Mädchen M. Enke, Tochter des verstorbenen Buchhändlers Ferdinand Enke, verlobt hat; sie gilt als sehr vermögend, gehörte aber nicht unserem Bekanntenkreise an.

Ich bin von Kaufmann Hackmann an eine längst bezahlte Rechnung für die Schreibmappe erinnert worden, welche Marie von ihm erhalten hat, ich finde die Quittung nicht bei mir – sie ist vom Sommer 1870 – habe ich sie Dir vielleicht zugeschickt? wenn Du suchst, so bitte ich darum.

Mit herzlichen Grüßen von mir und den Meinigen an Dich und Dein Haus

Treulich
Dein Bruder Karl.