Ich bin Dir schon länger einen Brief schuldig und wollte Dir heute schreiben, als ich am Morgen noch Deine Anfrage wegen des Vetters Egloffstein erhielt.1 Er hat auch gleichzeitig an mich geschrieben und ich habe ihm gestern geantwortet. Du weißt von seinem Abenteuer, wie er nach einem unglücklichen Duell, als er an demselben Tage sein Offiziersexamen bestanden hatte, sich flüchtete und zu mir nach Rostock kam, wo ich ihm eine Empfehlung nach Hamburg an Wichern gab. Dort hat er sich, wie mir nachhern Wichern schrieb, durch sein einnehmendes Wesen, seine vielseitigen Talente und tüchtigen Kenntnisse so gut empfohlen, daß er sofort Beschäftigung durch Unterricht an einem Erziehungsinstitut fand und eine Stellung gewann, die ihn hätte weiter bringen können. Aber er bereute seinen übereilten Schritt und kehrte nach 6 Wochen in seine Garnison nach Schlesien zurück. Das Duell war nicht so unglücklich, wie zuerst geglaubt, ausgefallen. Sein Hauptmann, bei dem er sehr beliebt gewesen sein muß, vertuschte die heimliche Desertion und bestrafte ihn nur mit Hausarrest wegen unbefugten längeren Ausbleibens. Indessen hatte er die Freiheit geschmeckt, das Garnisonsleben langweilte ihn, sein Sinn stand nach Amerika und er nahm seinen Abschied und wanderte aus. Weiter hörte ich von ihm, daß er als Feldmesser im Dienst der Union-Staaten weit im Westen umher gekommen sei, nach mehreren Jahren nach Schlesien zurückgekehrt sei, um sich dort eine Frau nach Amerika zu holen; ob dies eine Fürstin Reuß war, weiß ich nicht. Später erfuhr ich von seinem Bruder2 in Egloffstein, daß er in New York wohne und sich mit einer neuen Erfindung der Photographie beschäftige. Jetzt unterschreibt er sich als General außer Dienst; seine militärischen Kenntnisse werden ihn im Bürgerkriege3 emporgehoben haben. In seinem Brief hat er mir von seinem Leben nichts weiter mitgetheilt, als daß er vor 2 Jahren zurückgekehrt, krank gewesen, jetzt aber Reconvalescent sei; im nächsten Jahr gedenke er zur Familienzusammenkunft der Egloffstein in Cunreuth zu kommen, und dort müßte ich sein Gast sein.
Er schreibt sehr herzlich und liebenswürdig, betont halb im Scherz seine Verwandtschaft mit einigen Bischöfen von Würzburg und Bamberg4, deren Münzen sein Sohn5 sammle, so daß ich ihm schrieb, es wundere mich das von einem Manne, der 30 Jahre lang als Weltbürger in Amerika gelebt. Von seiner Vetterschaft weiß ich mir keine andre Rechenschaft zu geben, als daß sie etwa von der Seite der Montperny-Otting herstammen mag.6 Seine Eltern habe ich einmal von Simmelsdorf aus auf Schloß Egloffstein besucht, ein vortreffliches Paar, besonders der Alte von patriarchalischer Würde und gewinnender Liebenswürdigkeit und ebenso die unverheiratete Tochter7 von dem angenehmsten Wesen. Der Sohn scheint nicht aus der Art geschlagen zu sein und es ist gewiß ein Zug tiefer Gemüthlichkeit, daß er sich unser so herzlicher erinnert und mir noch jetzt seine Dankbarkeit zu erkennen gibt. –
Heute erhielt ich den ersten Brief von Anna aus Leipzig, wo sie sich schon seit beinahe 14 Tagen befindet. Die ganze Familie Klein ruhte auf dem Wege dorthin 3 Wochen lang in meinem Hause aus; es war allen ein sehr liebes Zusammensein. Anna war außerordentlich frisch und heiter, ganz die alte. Ihr Mann, der sich freilich immer sehr schonen muß und wenig in der Gesellschaft mitmachen kann, und ihre beiden Kinder befanden sich gut; das kleine Mädchen ist wunderbar stark, aber die Leipziger Luft und Kost bekommen ihm bis jetzt schlecht, und der Einzug dort war auch sonst mit allerlei Calamitäten begleitet, worüber Anna mit unverwüstlichem Humor schreibt. Für sie ist die Hauptsache, daß der Mann wohl ist; er hat seine Antrittsrede8 gehalten und liest vor 80 Mathematikern; einige seiner Schüler sind ihm von München her gefolgt. Ich habe Anna unser Sophiechen mitgegeben, nachdem ich mich, wenn auch mit schwerem Herzen, entschlossen, sie auf längere Zeit von hier zu entfernen, hauptsächlich aus dem Grunde von dem ich Dir schon schrieb9, zum Theil aber auch, damit sie in Leipzig Gelegenheit finde und nehme, sich weiter auszubilden und zu lernen, wozu sie am meisten Neigung hat. Es wurde ihr recht schwer sich von hier loszumachen, aber sie ist verständig und gefaßt, und vorläufig war sie für Anna so nützlich, daß diese, wie sie schreibt, sie gar nicht hätte entbehren können. Mundel ist jetzt Student und läßt sich von seinen Kameraden mit ins Studentenleben hineinziehen; die Vorlesungen gehen erst in der nächsten Woche an; dann werden wir sehen, wie es mit seinem Fleiße steht.
Schicke mir doch das Heft der Allgemeinen Deutschen Biographie zurück10, es gehört zu meinem Exemplar.
Meine besten Grüße an die liebe Clara, Clärchen und die ganze Familie Bitter, welche Ihr die Freude habt auf längere Zeit bei Euch in Berlin zu sehen.