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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 26. Dezember 1871

Lieber Karl!

Heute Nachmittag ist einige Ruhe des Festtags in mein Haus eingekehrt, und diese will ich benutzen, um Dir noch von unserem Brautpaar Näheres mitzutheilen. Die Hauptsache ist, daß Beide sich herzlich lieben. Von ihm habe ich Dir, glaube ich, bereits erzählt1, daß er schon seit Jahren eine tiefe Neigung gefaßt, durch seinen Vater aber von einer Erklärung zurückgehalten und nun nach beendigter Staatsprüfung seinen Entschluß zur Ausführung gebracht hat. Ich muß die ehrenhafte Diskretion anerkennen, welche er dabei beobachtet, so daß wenn ein näheres Interesse bis zur vertraulichen Freundschaft wohl hervortrat, doch so ernste Absichten nicht vermuthet werden konnten und insbesondere wir Eltern von der Erklärung völlig überrascht wurden. Ich habe nun auch den jungen Mann, dem ich bis dahin keine besondere Aufmerksamkeit widmete, kennen gelernt, und muß ebenso bei seiner Jugend seine männliche Kraft und Reife und seine ernste gediegene, sittliche und auch christliche Gesinnung hochschätzen, als ihn wegen seines liebenswürdigen unbefangenen und offenen Wesens lieb gewinnen. Seine geistige Begabung und Kraft hat er schon seither, und auch in der letzten Prüfung in ausgezeichneter Weise erreichen können, und es ist zu erwarten, daß er mit seinem Fleiße und eifrigem Streben sich zu einer bedeutenden Stellung und Thätigkeit hervorarbeiten werde. Zunächst wird er, und zwar vermuthlich schon in dieser Woche nach Stettin gehen, um als Hülfsarbeiter beim Appellationsgericht gegen Remuneration beschäftigt zu werden; später beabsichtigt er zur Verwaltung überzugehen und bei einer Regierung einzutreten und meint schon im nächsten Herbst seinen Hausstand begründen zu können. Ob dies möglich und rathsam sein werde, wollen wir noch abwarten; aber allerdings ist er nicht geneigt, sich aufs Verzögern und Vertagen zu legen. Jedenfalls würden dann seine Eltern einen erheblichen Zuschuß leisten müssen und dazu sind sie auch anscheinend geneigt und vermögend. Sie besitzen ein Haus in der Lennéstraße 2 – wir wohnten in den ersten Jahren unserer Ehe No. 3 –, welches er vor einigen Jahren für circa 50.000 Taler gekauft und wofür ihm bereits gegen 120.000 Taler geboten worden sind. Die Mutter, eine geborne Nauen – von jüdischer Abstammung – hat ein ansehnliches Vermögen geerbt; sie ist eine sehr klare verständige Frau, welche auch Friederike wegen ihrer festen und schlichten Wahrhaftigkeit und treuen Gesinnung, so wie ihrer soliden Einfachheit in äußeren Dingen besonders hochgeschätzt hat. Ihr Bruder, ein Kaufmann von ansehnlichem Vermögen ist der Gatte von Linchen Marheineke, welche noch immer als eine ungewöhnliche und elegante Schönheit erscheint; sie hat sich auch immer achtungswerth geführt und wird von ihrem herzensguten Manne auf den Händen getragen. Dadurch sind wir auch mit Mutter Marheineke wieder in nähere Beziehung getreten; sie hat sich vortrefflich konservirt, und so oft wir zusammentrafen, haben wir uns immer in alter Freundschaft begrüßt. – Ein Bruder von Vater Bitter ist Ober-Regierungsrath Bitter in Posen, war während des Krieges preußischer kommissarischer Präfekt in Épinal – Departement du Voges – und ist literarisch bekannt durch seine musikalischen Schriften über Bach, Händel etc.2 Ich glaube, daß Du ihm einmal hier auf dem Museum3 begegnet bist. Bitters Schwester ist die Dir auch nicht unbekannte Präsidentin von Viebahn, meine alte Freundin. – Vater Bitter ist ein preußischer Beamter comme il faut; immer Tag für Tag von früh bis spät in unablässiger Arbeit, der daheim aber auch gern gut lebt, ein durchaus ehrenwerther und sehr gutherziger Mann. Außer Rudolf hat er noch 2 Söhne, der älteste ist Assessor, arbeitet jetzt hier in der Steuerverwaltung, soll aber nächstens zur Regierung in Königsberg versetzt werden, der jüngste Sohn Max ist 16 Jahre alt und sitzt auch schon in Prima, ein sehr begabter Junge. – Mit diesem ganzen Familienkreise sind wir nun viel näher, als bisher, durch die Verlobung verbunden worden. So achtungswerth derselbe ist, so liegt er doch etwas außer meiner jetzigen Sphäre; es wird darin auch sehr aus dem Vollen gelebt, da das aber für Marie ganz vortheilhaft sein wird, wenn die jungen Leute in einer Provinzialstadt ihren Hausstand in bescheidenem Style gründen, was sie auch selbst wünschen. – Diese Gedanken liegen jedoch noch in weiter Ferne; gegenwärtig lebt das Brautpaar noch in dem sorgenlosen Genusse ihres neuen Glückes, und mir selbst ist diese Veränderung, welche so glücklich in mein Haus und Leben eingebrochen ist, noch sehr neu und ungewohnt; ich bin aber doch von herzlichem Dank für diesen unerwarteten Segen Gottes erfüllt und freue mich beim Anblick meiner Kinder; wie ihr ganzes Wesen von dem sie beseligenden Gefühl der Liebe durchströmt wird. Es ist mir dies eine große Bürgschaft ihres Glücks, da dies bei ihrer Eigenheit nicht möglich wäre, wenn nicht die volle Wahrheit vorhanden wäre.

Unter diesen Umständen war unser Weihnachtsfest sehr bewegt und reich ausgestattet. Wir hatten unsere Bescheerung am heiligen Abend zuerst, und am späteren Abend zog das Brautpaar zu den Bitterschen Eltern, wo sie aus einem reichen Füllhorn schöner Gaben beschenkt wurden. Gestern Nachmittag wohnten sie auch noch einer Bescheerung bei Nauens bei, von wo sie gleichfalls reichlich bedacht zurückkehrten. Heute Abend werden wir im Bitterschen Familien-Kreise zubringen. Mit der Abreise von Rudolf nach Stettin wird dann wieder mehr Ruhe einkehren.

Von auswärtigen Verwandten und Freunden haben wir viele herzliche Glückwunschbriefe erhalten, namentlich auch von dem lieben Onkel Gottlieb und allen Gliedern seines Hauses. Auffallender Weise haben wir von Anna in Leipzig keine Nachricht, so daß wir besorgt sind, daß sie durch Krankheit behindert sein möchte. – Marie dankt Euch von ganzem Herzen für Eure herzliche Theilnahme und liebevollen Wünsche; sie wird, ebenso wie Clara, Euch selbst bald schreiben.

Das Weihnachtsfest hat auch in der Politik eine kurze Ruhezeit hergestellt. Im neuen Jahr wird der Kampf um so heftiger, besonders gegen Minister Mühler von Seiten der Katholiken und der Liberalen beginnen. Man muß die Ausdauer bewundern, mit welcher er seinen Platz behauptet4; man kann aber nicht sagen, daß er es mit Ehren thut; sein Hin- und Herschwanken hat ihm die Achtung und den Halt bei allen Partheien geraubt. Was und Wer aber nach ihm? – Gott schütze und stärke unsere Kirche in den drohenden Gefahren. Es wird ein ernstes Jahr werden. Möge Gott in demselben Dich und Dein Haus gnädig behüten! Für Deine neue Photographie5 meinen herzlichen Dank; sie ist sehr gelungen; freilich läßt sie auch das Bleichen Deiner, wie meiner Haare erkennen. Wir wollen aber Gott immer danken, daß wir sie mit Ehren tragen.

In herzlicher Liebe
Dein Immanuel.