PDF

Karl Hegel an Immanuel Hegel, Garmisch, 20. August 1873

Lieber Manuel!

Aus Johannisbad erhielten wir Deinen erfreulichen Brief1 kurz vor unserer Abreise aus Erlangen, in den heißen Tagen des ersten Drittels dieses Monats. Wir selbst traten unsere Reise in der Nacht auf Sonnabend den 9. August an, um Tageshitze möglichst zu vermeiden, erreichten am folgenden Morgen nach 9 Uhr München und fuhren nach kurzem Aufenthalt an dem gefährlichen Ort2 weiter über Starnberg bis Tutzing, wo wir nach 12 Uhr ankamen und in einem schöngelegenen Gasthof am See ein höchst erwünschtes Unterkommen fanden. Das Wetter war noch prächtig und der See, eingerahmt durch heitere Ufer und stolze Gebirge in der Ferne, glänzte in den herrlichsten Farben. In der Nacht kamen Sturm und Gewitter, wodurch die Luft für die Fahrt des folgenden Tages angenehm abgekühlt wurde. Die Eisenbahn brachte uns noch bis Weilheim, von dort fuhren wir im offenen Wagen, oder vielmehr in zweien, von welchen wir den einen, Lommels den anderen inne hatten, gerade südwärts ins Gebirge hinein über Murnau, wo zu Mittag gerastet wurde, bis hieher. Da zwei Wohnungen zum voraus bestellt waren, hatten wir für das Unterkommen nicht erst zu sorgen; wir selbst sind beim Bürgermeister des Orts in 4 Zimmern einquartiert, Lommels beim Schullehrer in zweien, bequem und behaglich. Die Lage im weiten von Bergen eingefaßten Thal der Loisach und Partnach unterm Wetterstein mit Zugspitze ist Dir bekannt. Nach Partenkirchen, welches an der Hauptstraße nach Tyrol liegt, und obwohl kleiner als Garmisch einen etwas mehr städtischen Charakter als dieses hat, ist der Weg nur 20 Minuten weit. Von beiden Orten aus erreicht man in ebenso kurzen Strecken die Vorberge mit grünen Almen und reizenden Aussichtspunkten. Solche Spaziergänge suchen wir fleißig gewöhnlich an Nachmittagen auf; eine größere Ausfahrt zum Theil zu Wagen, zum Theil zu Fuß wurde vorgestern bis an den Eybsee unter der Zugspitze unternommen. Seitdem ist schlechtes Wetter eingetreten und heute ein voller Regentag, wie wir einen solchen schon in vergangener Woche hatten. Diese Regentage sind uns aus einem besonderen Grunde willkommen, weil sie nämlich den Kindern am besten Zeit lassen, ihre Masern im Bette abzuwarten: Mundel brachte die Ansteckung noch von Erlangen mit, wo die Krankheit allgemein verbreitet war und legte sich am ersten Tage nach unserer Ankunft, blieb 4 Tage im Bette und begleitete uns schon am 7. Tag nach dem Eybsee. Der kleine muntere Gottlieb, ein unglaublich elastisches und glücklich ausgestattetes Kind, fing gestern an sich zu erbrechen und zeigt seit heute morgen einen schwachen Masernausschlag, ist aber darum auch im Bette nicht weniger lebhaft, ja ausgelassener als sonst und wir hoffen, daß seine Krankheit noch schneller als bei Mundel, der sehr stark davon mitgenommen war, vorübergehen wird. Dann wird voraussichtlich in der dritten Woche unser Sophiechen an die Reihe kommen, wenn sie auch jetzt noch wie eine Gemse so flink auf die Berge steigt.3

Von der Schwester Caroline Brockdorf erhielten wir vorgestern die Trauernachricht, daß ihr einziges Töchterlein, ein Jahr alt, einem Darmkatarrh unterlegen sei. Am nächsten Sonntag den 24. August feiert Lina die Hochzeit ihrer Tochter Rosa, bei welcher Annchen leider nicht als Brautjungfer zugegen sein kann. Morgen am 21. August wäre der goldenen Hochzeitstag der lieben Eltern meiner Frau, wenn der gute Vater, wie wir alle hofften, ihn erlebt hätte. Die liebe Mutter wird Ende des Monats sich mit Löffelholzens in Kohlgrub, zwei Stunden westlich von Murnau, vereinigen, und denke ich vor unserer Abreise noch ein Zusammenkommen etwa in Ettal bei Oberammergau mit ihnen zu veranlassen.

Tief betrübt wurde ich durch den Todesfall meines vortrefflichen Freundes, des würtembergischen Geschichtsschreibers und Oberbibliothekars in Stuttgart, Stälin, mit dem ich jährlich bei der historischen Commission in München auf das herzlichste verkehrte; er war einer der hervorragendsten Gelehrten von seltenen Eigenschaften des Geistes wie des Herzens, dessen Hingang ich tief beklage. –

Herzliche Grüße an die Deinigen, vor allem an die liebe Clara. Wir bleiben hier in Garmisch, wie ich denke, bis in die erste Woche des September. –

Treulich
Dein Bruder Karl.