Das alte Jahr geht zu Ende und erinnert mit seinem rasch herannahenden Schluß an die baldige Erfüllung der versäumten Pflichten. Zu diesen gehört auch vornehmlich das Briefschreiben, welches bei mir in den letzten Wochen sehr in Rückstand gerathen ist. Die General Synode hatte meine Zeit und Kräfte gänzlich in Beschlag genommen, und als sie zu Ende war, mußte Vieles aufgeräumt und doch auch das Nöthigste zu Weihnachten besorgt werden. Ich habe in dieser Zeit die Anstrengungen des parlamentarischen Lebens reichlich kennen gelernt, und mußte daneben auch noch meine Konsistorialgeschäfte, so gut es ging, wahrnehmen. Von den Verhandlungen der Synode brauche ich Dir im Einzelnen nichts zu erzählen, da die Zeitungen darüber berichtet haben. Ich gehörte nach Ueberzeugung und Standpunkt zur konfessionellen Fraktion und war also in der Minorität; wir machten keine Opposition á tout prix1, wollten aber doch endlich das mangelhafte Werk der Vorlage verbessern und vervollständigen, namentlich die Generalsynode zu einem lebensvollen Organ der Landeskirche machen, dabei die Selbstständigkeit der Provinzialkirchen stärken und eine weitere Demokratisierung der Kirche verhindern. Von diesen Absichten ist nur wenig erreicht worden; die sog. Passage oder Mittelparthei war ein gefügiges Werkzeug des Evangelischen Ober-Kirchenraths und Ministers Falk und erdrükte uns durch die Macht einer ungeduldigen Majorität. Ich hatte den Entwurf gründlich durchgearbeitet – kein anderes Mitglied der Synode hatte sich dieser Mühe unterzogen – und nach Berathung in der Fraktion eine Reihe von Amendementes2 aufgestellt, welche von uns, zum Theil unter meinem Namen, eingebracht wurden. Zu einer gewissenhaften sachlichen Prüfung hatte aber die Versammlung wenig Neigung; sie wurde von dem Streben beherrscht, das Werk nach den Wünschen des Kirchenregiments in der Weise fertig zu machen, daß es die Zustimmung der liberalen Majorität des Abgeordnetenhauses gewinnen möchte. Dieses Ziel ist auch im Wesentlichen erreicht, und wenn auch zuerst liberale Stimmen, wie Virchow, Richter etc., sich sehr abgeneigt aussprachen, so ist es doch höchst wahrscheinlich, daß es dem energischen Einflusse von Falk, der sich dabei bis zur Existenzfrage engagirt hat, gelingen werde, die landesgesetzliche Sanktion durch den Landtag zu erreichen. Die Verfassung wird daher ins Leben treten und eine reiche Quelle innerer Kämpfe der Kirche werden. Da muß dann ein Jeder auf seinem Posten stehen und sich bemühen, Alles möglichst zum Besten zu kehren. Die weitere Entwicklung wird auch weniges von dieser Verfassung abhängen, wenn sie auch viele Schwierigkeiten zu bereiten geeignet ist, als von den allgemeinen politischen Verhältnissen und der herrschenden Macht der allgemeinen Strömungen in den Ideen der Zeit. Wer will aber diese vorher bestimmen? Ein gründ- licher Umschlag ist wohl gewiß zu erwarten; aber wann und unter welchen Umständen? und ob wir es noch in unserem Alter erleben? – Eine wohlthuende und erquickliche Seite in dem verflossenen Synodalleben war unsere herzliche und einmüthige Gemeinschaft in der konfessionellen Fraktion von circa 40 Mitgliedern, die wir uns fast an jedem Abend in ernster Arbeit zur Sache berathen und verständigt haben, und es ist für mich ein dauernder Gewinn, daß ich mehreren edlen vortrefflichen Männern unter ihnen persönlich näher getreten bin. – Meine Opposition mit zahlreichen Abänderungsanträgen war natürlich dem Kirchenregiment nicht angenehm; ich habe mich aber immer ganz objektiv gehalten und auch selbst durch eine auffällige Ungezogenheit von Herrmann nicht reizen lassen. Mein Verhältniß zu ihm hat durch die Synode nicht mehr, als es schon bisher war, verschlechtert werden können. Ein einschneidender Bruch kann, wie ich ihn schon seit langer Zeit erwartet, täglich kommen, aber ebenso gut ausbleiben. Muthwillig werde ich ihn nicht herbeiführen, aber mit voller Wahrung meiner Ueberzeugung und persönlichen Selbstständigkeit ihn durch Vorsicht zu vermeiden suchen. Ich gehe allen diesen Möglichkeiten auch im neuen Jahr mit getroster Gemüthsruhe entgegen. Die Verhandlungen der Generalsynode werden nächstens im Druck erscheinen; ich wünsche und hoffe, daß Dein gründlicher Kollege von Scheurl sie auch seiner Aufmerksamkeit würdigen und sich in der Sache selbst literarisch äußern werde. Ein solches kundiges und unbefangenes Urtheil würde von großem Werthe für uns sein, da wir selbst von den Kämpfen und persönlichen Gegensätzen benommen sind.
Das schöne Weihnachtsfest hat nun, Gott sei Dank, den Gedanken und Stimmungen eine andere ruhigere Richtung gegeben. Wir haben es mit dankbarer Freude in guter Gesundheit und gemüthlicher Stille feiern können. Der einzige Gast am Heiligen Abend war Schwager Theodor aus Potsdam. Morgen Dienstag Abend werden die Kinder aus Waldenburg mit ihrem Konrädchen hier eintreffen; sie logiren bei den Eltern Bitter. Da wird es in der Familie lebendig werden. In Deinem Hause wird sich auch zum Fest ein zahlreicher Familienkreis versammelt haben; wir vermuthen, daß auch das fröhliche Münchener Ehepaar Klein das Elternhaus wird aufgesucht haben. Wir bitten Sie Alle herzlich zu grüßen und ihnen auch unsere freundlichen Glück- und Segenswünsche zum neuen Jahr zu überbringen. Clara hofft, auch bald Zeit zu einem Briefe an die liebe Susanna zu gewinnen, um ihr noch nähere Nachrichten aus unserem Leben mitzutheilen. Ebenso aber verlangt es uns auch von Euch bald Kunde zu erhalten, namentlich wie es bei Lommels geht, ob Vater Lommel sich von den Strapazen der Berliner Reise ganz erholt und sich des Wohlseins seines lieben Frauchens und der zwei Kinderlein erfreuen kann.
Also mit vielen herzlichen Grüßen von uns Allen und dem Wunsch eines gesegneten neuen Jahres von Deinem Bruder Immanuel
P. S. Den 12ten Band der Städte-Chroniken mit Cöln3 habe ich mit bestem Dank erhalten und auch mit vielem Interesse wenigstens die Einleitung gelesen; man muß freilich bedauern, daß lange Zeiträume mit ihren Entwicklungen im Dunkel der Vorzeit verhüllt bleiben.