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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 3. Oktober 1886

Lieber Karl!

Du hast mir freundlichst zu meinem Geburtstag1 brüderliche Glückwünsche geschrieben2 und ich danke Dir dafür von ganzem Herzen. In unserem Alter müssen wir es als ein besonderes Gnadengeschenk betrachten, wenn wir unser Werk noch mit leidlichen Kräften treiben können. Dabei fehlt freilich nicht die Erkenntniß zunehmender Beschränkung, und indem ich dies getrost aus Gottes Hand annehme, so drängt sich mir doch immer mehr der lebhafte Wunsch auf, mich in Ruhestand versetzen zu lassen; während mich jetzt öfters die Sorge bewegt, ob ich mit den Arbeiten und Aufgaben geziemend zu recht komme, so könnte ich mich gemächlich im Ruhestand den immer noch übrig bleibenden Thätigkeiten widmen und mich in innerer Sammlung auf den letzten Heimgang vorbereiten. Doch muß ich nothwendig zu seinem Schritt eine ihn vor den Menschen rechtfertigende bestimmte Veranlassung haben, und diese fehlt mir bisher noch. Nun steht mir auch mein Jubiläum bevor und dies muß ich, so gut es geht, erst bestehen; es wird aber auch eine große Anstrengung werden.

An meinem Geburtstag wurde ich durch die Begrüßung meiner Kinder Marie und Rudel erfreut; sie waren am Morgen des Tages von ihrer Reise wohl und sehr befriedigt zurükgekehrt. Nach Beendigung der Kur in St. Moritz hatten sie die oberitalienischen Seen, dann auch bei großer Hitze Mailand und Genua besucht, und sind über den Rigi und Baden-Baden zurük gereist. Auch Willi war von Burg eingetroffen und benutzte seinen Aufenthalt hier zu Ankäufen von Meubeln und vieles mehr zur Einrichtung seines Junggesellen-Haushalts als Landrath im dortigen Ständehaus, da er nun seine Ernennung in einigen Tagen erwarten darf. Es wird ihm dort in seiner landräthlichen Wohnung doch etwas einsam werden.

In den letzten Wochen hatten wir vielen Besuch lieber Verwandten; zum Naturforscher Kongreß3 kam zuerst Klein und dann später der gute Lommel; beide waren auch noch einen Sonntag Mittag recht vergnügt bei uns und nahmen sehr gemüthlich Theil an unserer Fahrt mit den drei Bitterschen Kindern nach Charlottenburg an einem sonnigen Nachmittag, wo die Kinder an einem hübschen Platz im Schloßgarten mit liebenswürdiger Theilnahme von Klein ihre Spiele trieben. Klein war bei seinen Besuchen sehr munter und geistig angeregt, höchst liebenswürdig. Am Ende des Kongresses haben wir ihn nicht mehr gesehen; ich fürchte, daß die vielen Feste und Vorträge ihn gelangweilt und angegriffen haben. Lommel mußte leider auch schon früher heimkehren.

Seit acht Tagen sind nun auch das liebenswürdige alte Ehepaar Grundherr und Lina hier und nach einigen Tagen kamen auch die jungen Eheleute von Kopenhagen an. Die ersteren besuchten uns zuerst am Sonntag4 Abend vor acht Tagen und da wir unseren Kindern Bitter versprochen hatten, an diesem Abend zu ihnen zu kommen, so begleiteten sie uns dahin und verbrachten dort einen sehr angenehmen Abend. Darauf waren sie am folgenden Montag Mittag mit dem jungen Ehepaar bei uns. Sie scheinen alle von Berlin sehr entzükt zu sein und laßen sich die Anstrengungen des Aufenthalts mit den Besuchen der Merkwürdigkeiten nicht verdrießen. Sie sind dabei von warmem heiterem Wetter begünstigt und wollten daßelbe heute zur Fahrt nach Potsdam benutzen. Es begleitet sie auf der ganzen Reise ein Vetter Adolf von Grundherr, der ihnen als Reisemarschall von Nutzen ist.

Die Zeitungen haben auch von den Festlichkeiten in Nürnberg beim Besuch des Prinzen-Regenten berichtet.5 Ich hoffe, daß Du durch Dein Augenleiden6 nicht an der berufsmäßigen Theilnahme und Repräsentation gehindert worden bist. Der Prinz scheint auch mit freundlicher und verständiger Haltung die Huldigungen aufgenommen zu haben. Das bayerische Volk ist erfreut und dankbar, endlich einmal seiner Loyalität Ausdruck geben zu können.  

Deinen lieben Kindern überbringe unser Aller herzliche Grüße. Grundherrs haben uns auch vom Polterabend und dem Hochzeitsfest erzählt7, und wie Deine Sophie ihre Rolle mit Geschik und Anmuth ausgeführt hat.

Mit herzlichen Wünschen

Dein Bruder
Immanuel