XML PDF

Immanuel Hegel an Karl Hegel, Johannisbad, 5. August 1873

Lieber Karl!

Seit Sonnabend den 2ten dieses Monats sitzen wir wieder mit gemüthlichem Behagen in den grünen Bergen des böhmischen Riesengebirges und athmen mit wahrer Begier diese reine erquickliche Luft. Es ist mir noch niemals der Kontrast derselben mit der Berliner Luft, insbesondere in den letzten Tagen, so fühlbar und wohlthuend gewesen, als in diesem Jahre, da ich mich einerseits sehr angegriffen fühlte und gründlich erschöpft war, und andererseits sich in Berlin bei der andauernden Hitze eine qualmige und stinkige Stickluft entwickelt hatte. Es wird der Aufenthalt in Berlin mit den wachsenden Nebeln der Großstadt mit der Zeit immer unleidlicher, und während ein massenhaftes Proletariat in jedem Jahre hinzuströmt, suchen die Familien mittleren gebildeten Standes, welche nicht an den Ort durch Beruf oder sonstige Verhältnisse gebunden sind, anderwärts ein wohlfeileres und behaglicheres Asyl. Seit Jahr und Tag hat diese Auswanderung eine unerwartete Ausdehnung gewonnen; man überläßt Berlin seinen drohenden Geschicken, welche Bismark schon im Jahr 1849 geweißagt hat.

Doch war es, als ich die Feder ergriff, nicht meine Absicht, Dir eine sozial-politische Betrachtung aufzuschreiben, sondern ich wollte ich1 Dir und den Deinen von unserem derzeitigen Ergehen Nachricht geben, und zwar noch vor Eurem eigenen Aufbrechen in das Gebirge. Wir haben uns daher gefreut über die guten und tröstlichen Nachrichten, die wir durch die liebe Susanna empfangen haben und die wir auch schon sehnlichst erwartet hatten. Es wird Euch Allen der Aufenthalt in der herrlichen Alpennatur gewiß recht wohl thun und um so vergnüglicher sein, als Ihr die ganze Schaar Euerer großen und kleinen Kinder beisammen habt. Ich denke auch noch immer unter den Bildern meiner Jugend mit Entzüken an das schöne Partenkirchen mit Garmisch und Eibsee, wo ich vor bald 40 Jahren glückliche Stunden verlebt habe.

Clara wird auch, sobald sie den Ort Eurer Niederlassung im Gebirge erfahren hat, an Susanna schreiben. Sie ist in diesem Sommer schon viel und weit herum gefahren, und war nur acht Tage in Berlin, um ihren Hausstand zu ordnen und unsere Abreise vorzubereiten. Ich hatte inzwischen mit Willi allein gehaust und derselbe ist nun ganz allein in Berlin zurückgeblieben, da er sich auf sein juristisches Examen vorbereiten muß. Er ist ein gemüthlicher und verständiger Junge und widmet sich auch mit allem Fleiß seinen Studien; was muß nicht ein junger Mann heute zu Tage Alles lernen und erfahren, um für Beruf und menschliches Leben brauchbar zu werden, und wenn er sich nicht in der Breite verlieren will, ist eine Beschränkung auf ein bestimmtes Gebiet jetzt noch nothwendiger als in unserer Jugend, da die Bildung auf eine größere Universalität gerichtet war.

Auf der Rückfahrt von Lautensee nach Berlin hat Clara auch die Kinder in Posen auf einen Tag besucht und an ihrem Hausstand und Leben sich herzlich erfreut. Sie haben die Sommerfrische bereits genossen und sehen nun im Herbst der ernsten und doch so glücklichen Stunde entgegen, in der sie die Geburt eines Kindes unter Gottes gnädigem Beistand zu erwarten haben. Möchte ihnen dies Hoffnung ungeteilt in Erfüllung gehen!

Von dem lieben Onkel Gottlieb habe ich kürzlich zu meiner großen Ueberraschung aus Marienbad einen herzlichen Brief und eine Schrift über „Glaube und Reflexion“2 erhalten, die Dir gewiß auch bekannt geworden ist. Es hat mich die treue Liebe und der warme Eifer für die Wahrheit des christliche Glaubens darin herzlich gerührt; wer ihn kennt, empfindet die Kraft seiner durch ernstes Streben und reiche Lebens- erfahrung gewonnene Ueberzeugung und sieht im Spiegel das Bild dieses edlen Herzens. Für eine apologetische Schrift hätte sie einfacher, klarer und emfadtlicher3 sein dürfen, und es erscheint mir immer erfolgloser, die Gegner durch die Wahrheit überzeugen zu wollen. Die Ueberzeugungen der Menschen wurzeln in ihrem Lebensgang, ihren Zuständen und vor Allem in ihren Herzen. In unserer praktischen Zeit entscheiden die Thaten, und es kommt darauf an, daß zur rechten Zeit und am rechten Ort nach Recht und Wahrheit gehandelt wird. Das letztere kann ich nun nicht von unserem Evangelischen Ober- Kirchenrat behaupten, als er den Dr. Sydow wieder in sein Amt einsetzte. Es wird dies aber auch nur als Schluß des ersten Aktes des Dramas zu betrachten sein, aus welchem sich die weiteren Akte entwickeln; zunächst die evangelisch Lutherische Konferenz in Berlin, welche von großer Bedeutung werden kann. Es war mir eine große Befriedigung, am Tage vor meiner Abreise der Konferenz noch die Benutzung der Kirchen bewilligen zu können; ob der Evangelische Ober- Kirchen- Rat damit einverstanden ist, war mir sehr zweifelhaft; jedenfalls kann er es nicht mehr hindern. Es thut mir leid, daß ich die Konferenz selbst nicht in Berlin erlebe; ich hätte zwar nicht aktiv dabei sein können, aber gerne als Zuhörer, und um auch die Kampfeslust von verfehlten Bahnen abzuhalten. – Die erwartete neue Kirchen- und Gemeindeverfassung wird vermuthlich erst im Oktober das Licht der Welt erblicken.

Unseren Aufenthalt berechne ich auf 4 – 5 Wochen, und ich hoffe daß Luft und Bad ihre gute Wirkung auch diesmal nicht versagen werden.

Herzliche Grüße von Clara und Clärchen – beide befinden sich recht wohl – an Dich und Dein ganzes Haus.

In herzlicher Liebe Dein Bruder

Immanuel