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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 12./13. Dezember 1871

Lieber Karl!

Heute habe ich Euch die überraschende Nachricht zu bringen, daß mein Marie sich verlobt hat. Der Bräutigam ist der Gerichts-Assessor Dr. juris Rudolph Bitter, zweiter Sohn des Unter-Staats-Sekretairs im preußischen Ministerium des Innern Bitter. Er kam am Sonntag1 Abend zu mir, um um ihre Hand anzuhalten; ich war höchlich überrascht, da mir jede Vermuthung oder Erwartung ferne lag. Auch Marie bedurfte der Sammlung, da sie gar nicht darauf vorbereitet war. Ich bat ihn daher, sich am andern Morgen die Entscheidung zu holen, und nachdem die beiden sich daselbst gegeneinander auszusprechen und Marie mit voller Zuversicht ihr Jawort gegeben, konnte ich auch dem Bund des jungen Brautpaars mit herzlicher Freude meinen väterlichen Segen ertheilen und die Gnade des Herrn für sie erbitten. Der Bräutigam hatte sich bereits die Zustimmung seiner Eltern erbeten und dieselbe mit Freude erhalten. Sie gehören zu unseren ältesten Freunden und waren schon in Posen mit Flottwells nahe bekannt.2 Meine selige Friederike hat namentlich die Mutter Bitter in ihrer treuen Gesinnung und schlichten Wahrhaftigkeit geachtet und geliebt. Der Vater ist ein tüchtiger preußischer Beamter, ein durch und durch anständiger Mann, der viel arbeitet und dabei das Leben gerne genießt. Er ist ein vermögender Mann und wohnt in seinem Hause in der Lennéstraße No. 2. Seine Schwester ist Frau Präsidentin3 von Viebahn, meine gute Freundin von Arnsberg her, welche nun auch nach dem Tode ihres Mannes in Oppeln hierher gezogen ist.

Rudolf wird erst im nächsten Monate 26 Jahre alt; bei reicher Begabung und lustigem Fleiße hat er erst die Stadien der Vorbereitung durchgemacht, und dabei an den beiden Feldzügen 18664 als Soldat und 1870/715 bei der Garde-Landwehr vor Straßburg und Paris als Reserve-Offizier Theil genommen. Schon seit mehreren Jahren hatte er eine feste Zuneigung zu Marie gefaßt und nachdem er nun aber das Assessor-Examen zurückgelegt, hat er seinen lange gehegten Entschluß der Verbindung mit ihr zur Ausführung gebracht. Er ist eine tüchtige kräftige Natur, praktisch und strebsam; es darf daher eine gute Laufbahn im Staatsdienste von ihm erwartet werden. – Zunächst wird er, und wahrscheinlich bald als Hülfsarbeiter zum Appellationsgericht in Stettin gehen und beabsichtigt später zur Verwaltung überzutreten. In seinem Wandel hat er einen guten Ruf und in seiner religiösen Ueberzeugung hat er jedenfalls Achtung für Christenthum und Kirche und gehörte zu den besten Konfirmanden Büchsels; die tiefere Erfahrung wird die Arbeit des Lebens ihm zuführen. Nach Allem diesem Liebenswerthem können wir wohl von Herzen dankbar sein für diese Verlobung und mit Zuversicht hoffen, daß wir in ihm einen wackeren Schwiegersohn gewinnen und Marie mit ihm unter Gottes Beistande und mit Seinem Segen eine glückliche Ehe führen werde.

Es wird nun eine unruhige Zeit für uns beginnen, und besonders in diesen ersten Tagen ist es schwierig auch nur die Geschäfte des Amts nothdürftiger zu betreiben und abends die Zeit zum Briefeschreiben zu finden. Dieser Brief hat unvermeidlich eine Verzögerung erfahren und ich schließe ihn, um ihn wenigstens heute – Mittwoch6 – abzusenden.

Clara sendet Euch die herzlichsten Grüße und auch Rudolf bittet Dich herzlich, ihm Vertrauen und freundliches Wohlwollen zuzuwenden.

In herzlicher Liebe

Dein Bruder
Immanuel