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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Johannisbad, 14. August 1872

Lieber Karl!

Wir sind Dir von Herzen dankbar, daß Du uns einen ausführlichen Bericht von Eurem Hochzeitsfest in Deinem lieben Briefe1 gegeben hast; es ist natürlich ein lebhaftes Verlangen der fern Gebliebenen, daß sie sich von dem Verlauf einer solchen Feier, welche sie in der Ferne mit ihrer Theilnahme begleitet haben, ein bestimmtes Bild machen können, und wir freuen uns herzlich, daß das Fest durch die zahlreiche Anwesenheit der lieben Nürnberger Verwandten erhöht worden und überhaupt zu Eurer vollen Befriedigung, insbesondere der lieben Hausfrau, die dabei innerlich und äußerlich den schwersten Theil zu tragen hat, ausgefallen ist. Es sind nun glückliche Wochen, welche das junge Paar auf ihrer schönen Reise verleben darf, während ihnen von mütterlicher Fürsorge der Hausstand mit allem Bedarf, nothwendigem und angenehmem, eingerichtet wird.

Alles dieses steht uns nun noch bevor, wenn auch unter anderen Verhältnissen, und ich werde herzlich froh sein, wenn ich es auch als glücklich absolvirt betrachten kann. Unser junges Paar wird sich freilich sein Nest in Posen selbst einrichten müssen, womit sie auch übrigens ganz zufrieden zu sein scheinen. Die Wohnung ist zum 1sten October gemiethet und es ist allseitig der Wunsch, daß dann, wenn zunächst Rudolf in Posen die nöthigen Anordnungen in der Wohnung getroffen haben wird, baldigst die Hochzeit vor sich gehe, und da hiervon auch Dein freundlichst zugesagter Besuch abhängig ist, so ist Sonnabend, der 5te October ins Auge gefaßt, und so weit menschliche Termine festgesetzt werden können, unter Zustimmung aller Betheiligter angenommen worden; es würde der Feier der übliche Polterabend am Donnerstag den 3ten October im Bitterschen Hause vorausgehen; wenn derselbe einmal nicht zu vermeiden ist, so ist es jedenfalls angemessener ihn dort, als im Pfarrhause zu halten, wo er doch enger und stiller vor sich gehen müßte, als der große Kreis von Freunden, besonders auch auf Bitterischer Seite gestattet. Das freundliche Anerbieten Bitters ist auch von uns als eine wesentliche Erleichterung daher gern angenommen worden. Wir nehmen an, daß der gedachte Termin auch in Deine Arrangements und Verpflichtungen noch ganz gut hineinpassen wird; ihn früher zu legen, wird aus vielen Gründen nicht möglich sein.

Es ist uns eine recht herzliche Freude, daß Du uns auch den Besuch der lieben Susanna mit Annchen in Aussicht stellst, und daß Du uns dann noch Deine Tochter auf einige Zeit als Hauskind überlassen willst. Wenn ihr dies Vergnügen macht, so wird für uns dagegen ihr längeres Verweilen einen ebenso glücklichen, als erwünschten Uebergang in meinem Hause bilden, dessen Leben doch durch das Ausscheiden von Marie eine wesentliche Veränderung erfahren wird.

Die Erholung in dem freundlichen Kissingen und Brückenau gönne ich Dir von Herzen, ebenso wie mir selbst die Kur in Mitten der grünen Berge des Riesengebirges. Es hat uns Alle die Anmuth dieser Landschaft, das herrliche Grün von Wald und Wiese und die kräftige frische Gebirgsluft von Neuem entzückt, und wir betrachten es auch als einen Vorzug, daß wir hier mit Umgebung, mit Leben und Einrichtungen wohl bekannt, und dadurch sofort heimathlich geworden sind. Es treiben uns auch keine Wünsche, die Umgebung zu erforschen und in die Weite zu streifen, um so weniger da wir Alle das dringende Bedürfnis des Ausruhens haben. Es war ein scharfer Kontrast aus dem glühend heißen Berlin mit großer Arbeit und Hast hierher in die stille und kühle Mulde versetzt zu werden, und die äußerliche Abkühlung war bei der eingetretenen Wetterveränderung so kräftig und empfindlich, daß wir in der ersten Woche bei Tag und bei Nacht gefroren und uns dann auch mehr oder weniger erkältet haben, und wir jetzt in der zweiten Woche allesammt mehr oder weniger etwas Lazareth darstellen und wenigstens nur dem Naturgenuß mit Vorsorge hingeben müssen. Unsere Wohnung ist freundlich und bequem, und hat den Vorzug, unmittelbar an einem reizenden Buchengehölz gelegen zu sein, welches den Berg umkleidet. Hier findet man Schutz gegen Sonne und Wind.

Wir kamen am Sonnabend den 3ten August hier Abends glücklich an nach 10stündiger Eisenbahnfahrt. Marie hatte uns in Hirschberg verlassen, da sie einer Einladung zu ihrer Freundin Marie Hengstenberg in Cammerswaldau folgte; sie ist uns erst am letzten Sonnabend2 von dort nachgefolgt. Die Eisenbahn3 führt jetzt über Trautenau bis Freiheit; von hier geht ein bequemer Weg das Thal hinauf nach Johannisbad. Der Ort ist so zahlreich besucht, als hier nur Gäste Unterkommen finden; meistens schlesische Familien und auch Berliner, darunter gute Bekannte, mit denen wir gern verkehren, wie Herr von Liebe, braunschweigscher Geheimer Rath, Präsident Wallach, Geheimer Ingenieur Hepko etc. Es war ein sehr einschlagendes und erschütterndes Ereignis in voriger Woche, daß hier plötzlich der Graf Eberhard zu Stolberg-Wernigerode starb; er war zwei Tage vorher in voller Frische und Lebenskraft hier angekommen und wurde am Donnerstag Morgen im Bette, am Gehirnschlag verschieden, todt gefunden. Er war ein edler treuer und liebenswürdiger Mann und es würde mir ein großer Genuß gewesen sein, hier mit ihm, da ich ihm auch wohl bekannt war und viele kirchliche Interessen mich mit ihm verknüpften, näher verkehren zu können. Tief greifend ist aber sein Verlust für die Provinz Schlesien als Oberpräsident, ferner für den Staat als Präsident des Herrenhauses; hier ist er durchaus unersetzlich. Der Tod greift überhaupt gewaltig in die ältere Generation, welche in den letzten Dezennien Preußens Geschichte beherrscht haben; dazu gehört auch der treffliche Abeken. Die neu hineinrükende jüngere Generation ist anders geartet, und da ich selbst der älteren angehöre, so kann ich jene nicht beßer, nicht tiefer gegründet und auch gebildet finden; es geht durch sie der allgemein materialistische Sinn, dem sie auch mit überspannter Zuversicht huldigt. Doch erkenne ich es wohl an, daß das Alter zum Schwarzsehen geneigt ist.

Willi wird noch in Göttingen sein, von wo er sehr glücklich im Kreise seiner Freunde geschrieben hat. Von dort wollte er nach Detmold zu Onkel Adalbert.

Mit Deinem guten Georg stehst Du auch vor einer wichtigen Entscheidung und Du wirst sie gewiß auch in Uebereinstimmung ebenso mit seinen Gaben und Kräften, als mit seinen Neigungen zu treffen suchen. Letztere sind für den Erfolg zwar nicht maaßgebend, aber doch von großem Einfluß und sie mildern die väterliche Verantwortlichkeit; abstrakt beurtheilt möchte sich der gewerbliche Beruf, mehr als der landwirtschaftliche, namentlich in Süddeutschland empfehlen.

Viele herzliche Grüße von Klara und den Kindern. In treuer Liebe

Dein Immanuel