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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 30. Mai 1880

Lieber Karl!

Die Beantwortung Deines Briefes vom 2ten dieses Monats1 hat sich länger verzögert, als ich wünschte; es trat in dieser Zeit Vieles ein, was mich besonders in Anspruch nahm. Vor Pfingsten2 war ich zwei Tage in Halle, wo eine Konferenz von Deputirten der deutschen Bibelgesellschaften gehalten wurde, um über gemeinsame Grundsätze und Erfahrungen und insbesondere über unsere Stellung zu der ihrem Abschluß entgegengehenden Text-Revision der Luther-Bibel zu berathen. Es waren die bedeutendsten Gesellschaften vertreten, vornehmlich die würtembergische, welche die thätigste von Allen ist; die bayerische wurde von Pfarrer Seiler aus Nürnberg vertreten, der sich aber ziemlich passiv verhielt. Die Vorbereitungen hatte die Direktion der Frankeschen Stiftungen und der Cansteinschen Bibel-Anstalt übernommen und ich hatte dadurch Gelegenheit, dieses großartige Schulanstaltswesen mit Erstaunen und Bewunderung in Augenschein zu nehmen. Man hatte die Güte, mir den Vorsitz zu übertragen3 und es gelang, die Berathungen in einer langen Vormittagssitzung nach befriedigendem Verlauf fertig abzuschließen; hieran schloß sich dann ein gemüthliches Mittagessen im Gasthof an. Auf Einladung meines alten Freundes Rothe, früher Regierungs- Präsident in Merseburg, nach seinem Jubiläum in Ruhe getreten und jetzt zu seinem Vergnügen Stadtrath in Halle und Leiter der dortigen Schulverwaltung. Ich fand in seinem Hause die herzlichste Aufnahme und verlebte hier recht erquikliche Stunden. Ferner aber hatte ich die große Ueberraschung und Freude bei Frau Tholuck auch noch die liebe Tante Thekla anzutreffen; sie wollte am folgenden Tage nach München zurükkehren, und hofft, daß die arme Anna Mangelsdorf nach Abschluß der schwierigen erbschaftlichen Auseinandersetzung nun auch bald in ihre Heimath zurükkehren werde. Es wird für sie eine Erlösung sein, wenn sie sich von der sächsischen Sippschaft verabschieden kann, von Vermögen wird sie aber dabei nichts herausbekommen, und nichts weiter mitnehmen als schmerzliche Erfahrungen und eine gebrochene Gesundheit.

Die Pfingstfeiertage verlebten wir wieder in Pessin im Havelland in der lieben Knoblauchschen Familie; freilich war es kalt, so daß von Sitzen im Freien keine Rede war. Die Tage wurden aber in dem zahlreichen Kreise liebenswürdiger Menschen heiter und gemüthlich verlebt und waren bei trefflicher Verpflegung eine sehr angenehme Erholung. Am Dienstag4 Vormittag kehrten wir zurük und am Donnerstag5 Morgen fuhr Clara nach Waldenburg, wo meine Marie am Dienstag den 4ten dieses Monats von einem Knäblein glüklich entbunden worden. Es wurde das spätere Kommen der Mutter gewünscht, damit sie dort zu der Zeit verweilen konnte, wo Rudolf hier als Abgeordneter des Landtags sein muß. Die Nachrichten von Waldenburg lauten im Ganzen erfreulich und dürfen wir mit Gottes Hülfe einen günstigen Verlauf hoffen. In 14 Tagen soll die Taufe sein und erwarte ich dann die Rükkehr meiner Frau.

Dazwischen ist nun das traurige Ereigniß eingetreten, daß Vater Bitter gestorben ist. Rudolf fand ihn noch am Leben, als er am Donnerstag vor 8 Tagen6 hier eintraf. Es war zuletzt eine Erlösung von schweren Leiden, die durch Lähmung des Herzens verursacht wurden. Er war ein wohlwollender, ehrenhafter Mann und tüchtiger Beamter, der in den höheren Kreisen beliebt und geachtet war. Er liebte die Gesellschaft und war sehr gastfrei; er hätte gern das Leben noch lange genossen. Bei dem vorhandenen Vermögen wird die Familie keine äußere Noth leiden; der Wittwe wird aber die Einsamkeit recht schwer fallen.

Gestern ist mein Willy hier angekommen; er muß als Landwehroffizier eine 14tägige Uebung beim Kaiser Alexander-Regiment mitmachen; er ist frisch und wohl und von seiner Stellung und Thätigkeit in Paderborn ganz befriedigt. Da dies nun aber wohl bald zu Ende gehen wird, so hat er seine Ernennung zum Regierungs-Assessor durch Uebernahme zur allgemeinen Staatsverwaltung beantragt und es wird dies auch unbedenklich erfolgen. Wenn das Kulturkampf-Gesetz, wie erwartet wird, vom Landtag angenommen wird, so kann am ersten in Paderborn die bischöfliche Verwaltung wiederhergestellt werden, da der Bischof Martin gestorben ist. Der Rückzug im Kulturkampf, der unbedacht und mit Hochmuth unternommen worden, ist unvermeidlich; die Zwangsmittel der Maigesetze sind erschöpft und ein besserer Ersatz durch Abwarten nicht zu erreichen. Man verwüstet nur das eigene Land und werden hier Zustände geschaffen, die täglich gefährlicher werden, und wenn über kurz oder lang Katastrophen durch innere oder äußere Feinde kommen, so kann man das Aeußerste befürchten. Der Herr über die römische Kurie etc. ist ohnmächtig und mit der Sentenz: vivat justitia, pereat mundus7 läßt sich nicht ein Land regieren. Die Herstellung des Friedens ist freilich jetzt recht schwierig.

Klärchen, die jetzt den Haushalt mit Eifer und Sorgfalt führt, und Willy tragen mir herzliche Grüße auf.

Ich hoffe, daß inzwischen auch die mehrfachen Sorgen bei Lommels glüklich überwunden sein werden und wünsche, daß Du mit Deinen Kindern auch Deinen bevorstehenden Geburtstag8, zu dem ich Dir auch meine brüderlichen Wünsche ausspreche, in dankbarer Freude verleben mögest.

In herzlicher Liebe  Dein Immanuel