Die Festtage bringen mir endlich einen ruhigen Abend, um an Dich zu schreiben und Dir von unserem Leben zu erzählen. Zum schönen Weihnachtsfest sind wir durch den Besuch der Kinder aus Posen mit ihrem kleinen Konrad erfreut worden. Der Kleine ist ein allerliebster stämmiger Bursche voll Lust und Leben; ohne alle Blödigkeit lacht er Jedermann an und auf der Erde umherkriechend durchforscht er alle Winkel und offenen Schränke. Gott erhalte ihn zur Freude seiner Eltern! – Marie ist zwar nicht kräftiger geworden, aber ganz munter und lebt offenbar recht glücklich mit ihrem Ehegatten, mit dessen Natur und Wesen sie trefflich und fast mehr wie ich bei ihrer Eigenheit erwartet hatte, harmonirt. So angenehm die geselligen Verhältnisse in Posen in mancher Beziehung für sie sind, so will doch Rudolf durchaus dort nicht bleiben. Er wird von Günther ausschließlich beim Ober-Präsidenten besonders in dem katholischen Kampf beschäftigt. Dies ist ihm zwar sehr interessant und lehrreich; seine ungebundene Natur wird aber durch das stramme, peinliche und rücksichtslose Wesen von Günther zur Verzweiflung gebracht. Er setzt daher hier alle Segel auf, um ein Landrathsamt zu gewinnen und dies dürfte ihm auch wohl gelingen. Er ist ein sehr begabter und kräftiger junger Mann, wird aber noch mehr Geduld und Fügsamkeit lernen müssen. Er muß schon übermorgen wieder nach Posen zurückkehren; Marie und das Kind bleiben noch bis zum 3ten Januar hier. Sie wohnen bei Rikert, wo die Dienstwohnung reichlich bequeme Räume darbietet. Auch der Onkel, Präsident in Schleswig, ist zum Besuch im Fest bei ihnen.
Am Weihnachtsabend kamen die Kinder auch zu unserer Bescheerung und Onkel Theodor war dazu aus Potsdam herübergekommen. Wir waren erfreut, daß sein Befinden ihm dies gestattete, da er dazwischen oft Morphium – Einspritzungen zur Bekämpfung der neuralgerischen Schmerzen1 anwenden muß. Am ersten Feiertag war die ganze Bittersche Familie bei uns zu Mittag und am zweiten wir wieder bei ihnen, so daß man den Leib reichlich pflegte. Nun gehen wir dem Ende des Festes entgegen, und stehen bald an der Schwelle des neuen Jahres. Ich werde es mit schwerer und banger Sorge, wie noch nie beginnen. Jeden Tag erwarte ich den Auftrag zur Einberufung der Provinzialsynode, welche sich im Januar versammeln soll und wir werden damit in eine ernste Krisis unserer Landeskirche treten, welche wahrscheinlich auch für meine amtliche Stellung verhängnisvoll werden kann. Der Konflikt des Standpunktes und den Tendenzen des Ministers Falk und des Evangelischen Ober- Kirchenraths mit den konfessionellen Gliedern der Kirche, welcher jetzt schon in der Polemik der Presse und Pastoralkonferenzen und verschiedenen Disciplinar-Untersuchungen sein Vorspiel treibt, wird auf der Synode unvermeidlich zum Ausbruch kommen, und so sehr ich mich bemühen werde, mir mit Gottes Hülfe nüchterne und besonnene Ruhe zu bewahren und den Gegensatz nicht ohne Noth zum Eklat zu bringen, so wird es doch Ehre und Gewissenspflicht mir gebieten, meine Ueberzeugungen, wo ich reden und handeln soll und muß, kund zu thun. Der Minister und Ober-Kirchenrath haben im Herzen keine bösen Absichten mit der Kirche, sondern wollen ihr bestes Wohl; sie sind aber beide an sich liberal, der Minister und seine Räthe sogar mit Leidenschaft, und haben als leitenden Gesichtspunkt nur allein die Zufriedenstellung der liberalen Majorität des Landtages, um von dieser die nöthigen Gelder zu erlangen. Der Kaufpreis für dieses Geld ist aber zu kostbar; er demokratisirt, er ruinirt die Landeskirche. Es ist merkwürdig, daß der Ausbruch der lange durch den Gegensatz der Ideen und Richtungen vorbereitenden Krisen in der Geschichte gewöhnlich durch die Geldverlegenheiten, die finanziellen Fragen herbeigeführt worden ist. So auch jetzt in unserer evangelischen Landeskirche. Die Civilehe hat an vielen Orten, namentlich in Berlin durch die Verminderung der Trauungen und Taufen einen solchen Ausfall in den Stolgebühren zur Folge daß eine große Zahl von Pastoren und Kirchenbeamten nicht mehr existiren können. Da die Entschädigung des Staats problematisch und jedenfalls auf die Dauer ungenügend sein wird, so wird man zur Kirchensteuer greifen müssen. Diese ist aber nicht leicht zu Stande gebracht und wenn sie kommt, werden die Massen aus der Kirche ausscheiden. Der innere Konflikt besteht aber darin, daß das obere Kirchenregiment mit Falk der Kirche das Recht streitig machen, sich nun selbstständig ein kirchliches Eherecht festzustellen und hiernach die Trauungen solchen Einrichtungen zu versagen, bei welchen die kirchlichen Eheerfordernisse nicht erfüllt werden; sie bestreiten, daß die Kirche einen christlichen Ehebund – welcher die Civilehe voraussetzt – zu schließen habe, sie soll nur die Civilehe segnen. In dieser wichtigen Frage, aus welcher eine Reihe schwerwiegender Konsequenzen hervorgehen, kann ich das Recht der Kirche nicht verläugnen und kann mich auch nicht zum Werkzeug hergeben wollen, die hierin aus Gewissenspflicht, namentlich bei den Wiedertrauungen von Separirten widerspenstigen Pastoren zum Gehorsam zu zwingen und vom Amte abzusetzen. Doch wollen wir ruhig und getrost den Verlauf abwarten. Ich singe zu Neujahr: „Machs lieber Gott, wie dirs gefällt in allen meinen Sachen! Mein Hoffen ist auf dich gestellt, du wirsts am besten machen. Dein Wort ist mir ein sicheres Pfand; ich schau auf deine starke Hand, die kann bald Alles ändern.“2 –
Ich wünsche von Herzen, daß Ihr ein frohes Weihnachtsfest gefeiert habt und daß Ihr das neue Jahr gesund und froh antreten möget! Wir senden Euch insgesammt dazu die herzlichsten Glückwünsche.
Den in Deinem letzten lieben Briefe3 – der mir auch viel Interessantes aus Deinem Münchener Aufenthalt zur historischen Kommission mittheilte4 – angekündigten 11ten Band Deiner Chroniken5 habe ich inzwischen mit Dank empfangen und darin besonders mit großem Interesse den Prozeß wider Nicolaus Muffel gelesen; nach der dem Band beigefügten Karte scheint er am Aegidienplatz im jetzigen Tucherschen Hause gewohnt zu haben.
Gott behüte Euch! Herzliche Grüße auch den lieben Nürnbergern. In treuer Liebe Dein Bruder Immanuel
P. S. Ueber die Frage der Stolgebühren und Kirchensteuer in Berlin habe ich einen Artikel in dem Evanglischen Kirchen Anzeiger6 geschrieben, den ich Dir senden werde.