In den beiden letzten Tagen ist das Befinden der lieben Mutter leidlicher gewesen; nach Morphiumpulver, welche Böhm verschrieben, hat sie in der Nacht mehr Ruhe gehabt und ist der Husten leiser gewesen, so daß sie auch am Tage sich besser fühlte und theilnehmender sein konnte. Doch ist diese Besserung immer nur relativ und seit Deiner Anwesenheit2 ist unverkennbar eine große Veränderung eingetreten. Die Schwäche ist in raschem Zunehmen, und ihre Züge und ihre Augen ermatten. Es ist ein allmähliches Dahinschwinden.
Gestern waren wir so glücklich, ihr noch eine große Freude zu machen. Der junge Schlesinger3 hatte mir das Bild des Vaters geschickt. Dasselbe hat eine etwas fremdartige Haltung und Ausdruck; er ist zu repräsentativ und zu wenig gemüthlich dargestellt, und die Augen haben eine zu große Schärfe im Blick; auch am Mund sind manche Unähnlichkeiten. Doch ist der Eindruck nicht unangemessen, und es überwiegt die Aehnlichkeit; dabei ist es ein würdiges und lebendiges und mit Kraft ausgeführtes Bild. Die Mutter hatte gehört, daß Carl Kohl bei ihr gewesen war und fragte nach dem Bilde und da sie gestern sich kräftiger fühlte und theilnehmender war, so brachten wir ihr gestern Nachmittag das Bild. Es war ihr eine große Freude und sie hatte es bis zum Abend bei sich stehen. Dagegen war es wohl auffallend, daß es sie nicht, wie ich besorgt, in eine größere Bewegung versetzte, und heute hat sie nach dem Bild noch nicht gefragt, da sie überhaupt viel schlummert, was wohl eine Wirkung der Pulver sein möchte. Wenn der Husten sie nicht quält, so fühlt sie sich im Uebrigen wenig beschwert. Doch ist eine Affektion des Halses hinzugetreten, so daß sie nur mit Anstrengung sprechen kann. Das dürfen wir uns bei diesem ganzen Zustand nicht verhehlen, daß ihre Tage gezählt sind; doch dürfen wir der guten Mutter die Erlösung von solchem Leidensleben wohl gönnen, und wenn es auch in Gottes Hand liegt, dasselbe noch länger, als wir glauben, dauern zu lassen, und wenn auch die wunderbare Widerstandsfähigkeit ihrer Natur dem Arzt nicht gestattet, eine Notzeit über die Dauer auszusprechen, so wollen wir Gott flehentlich bitten, daß Er ihr die letzten Leidenstage nicht noch erschweren und ihr ein sanftes Ende gewähren möge.
Die Tante Fritz ist von ihrem Katarrh wieder hergestellt und mit sorgsamster Liebe um die Pflege der lieben Mutter in Gemeinschaft mit der guten Marie bedacht. Es ist ein großer Trost für uns, daß der Mutter so liebevolle Hände Beistand leisten und ihr jede thunliche Erleichterung verschaffen. Friederike ist auch am Tage viel drüben.
Bei mir ist Alles wohl; Gott gebe, daß auch Ihr Euch wohl befindet.
Bald werdet Ihr wieder von uns Nachricht erhalten; namentlich, wenn eine erhebliche Veränderung in dem Zustand der theuren Mutter eintreten sollte.