Du wirst morgen einmal wieder Deinen Geburtstag1 feiern, und wenn in unserem Alter wir uns an die Wiederkehr dieser Feier allmählich gewöhnt haben, und wir auch in dem Zuwachs eines neuen Lebensjahres nicht mehr einen Vortheil erkennen können, so ist doch ein solcher Abschnitt stets eine erneute Aufforderung zu einem Rückblick in die Vergangenheit und zu guten Wünschen für die Zukunft. Das verflossene Jahr hat Dir tief schmerzliche Wunden gebracht; Gott, der Herr, wird Dich aber auch in dieser Zeit der Heimsuchung Seine tröstende, Seine verbindende und aufrichtende Gnadenhand haben erfahren lassen, und es bleibt uns aus solchen Erfahrungen nicht bloß eine wehmüthige Erinnerung, sondern wir werden auch gestärkt durch den Geist des Friedens in der Hoffnung einer himmlischen Heimath. Die guten Wünsche für das neue Jahr werden Dir nicht fehlen, und wir fügen diesen Frühlingskränzen zum Schmucke des Geburtstagstisches auch die unsrigen in herzlicher Liebe hinzu. Mögen diese Wünsche durch Gottes Gnade reichlich in Erfüllung gehen!
In unserem Leben hat es in den letzten Wochen innerlich und äußerlich an Bewegungen mancherlei Art nicht gefehlt. Zur Pfingstwoche2 besuchte uns mein Neffe Paul, der älteste Sohn meines verstorbenen Schwagers Herrmann, 16 Jahre alt, Primaner in Elbing, ein pflichttreuer, begabter und strebsamer junger Mann, von dem zu hoffen ist, daß er sich zu einer höheren freieren Bildung durcharbeiten werde. Zugleich mit ihm wohnte bei uns seine Schwester Auguste, die hier in einer Mädchenpension auch noch ausgebildet werden soll: ein hübsches dralles Kind, ein treues Abbild ihrer behaglichen Danziger Großmutter. Meine Frau und Clärchen hatten die Aufgabe, dieses junge schaulustige Volk in Berlin herumzuführen, bis sie von Willi abgelöst wurden, der nach den Festtagen von seiner Offiziersübung in Wesel und von Detmold, wo er meinen Schwager Adalbert besucht hatte, zurückkehrte. Jetzt setzt Willi wieder sein Thätigkeit als Referendarius bei der Gerichts-Deputation in Alt-Landsberg fort.
Vor acht Tagen wurden wir durch den Besuch von Vetter Kieser aus Stuttgart sehr überrascht; er nimmt hier als Kommissarius seiner Regierung an den Berathungen einer Reichs-Kommission über die Ausführung der neuen Maaß- und Gewichtsordnung3 und die Geschäftsführung der Eichungsämter Theil; außerdem soll er sich mit den Einrichtungen unserer Bergverwaltung bekannt machen. Es ist recht erfreulich, daß er doch endlich in seiner Heimath zu einer befriedigenden und angesehenen Stellung und Wirksamkeit gelangt ist. Da wir ihn nicht in unserem Hause, welches von den junge Gästen besetzt war, aufnehmen konnten und er auch durch tägliche Sitzungen und andere Arbeiten sehr beschäftigt ist, so haben wir nur am letzten Sonntag4 seinen Besuch genießen können und führten ihn nach der Kirche in den Zoologischen Garten, der ihm sehr gefiel. Hoffentlich wird er auch noch Morgen bei uns sein können, wenn er nicht schon heute abreist; es ist eine herzliche Freude mit einem so wackeren und gemüthlichen Schwaben und liebenswürdig theilnehmenden Verwandten zu verkehren.
Die schönen Sommertage, die uns jetzt nach dem langen Frostwetter erquicken, erregen das Verlangen nach erfrischender Erholung in Gottes schöner Natur. Ich habe für mich keinen anderen Wunsch, als Johannisbad, wo mir die Verhältnisse und Lebensweise bekannt und lieb geworden sind, in Bergesluft, Waldesgrün und in den stärkenden Bädern zu erquicken, und ich hoffe dort auch die frühere Wohnung wieder zu erhalten. Mein Katarrh hat mich in diesem Frühjahr wieder sehr geplagt und ich quäle mich noch jetzt mit nächtlichem Husten. Auch meine Nerven sind unter den Aufregungen und Sorgen dieser Zeit angegriffen. Es wird mir recht wohl thun, wenn ich mich werde einige Wochen, von Anfang August an, ausruhen können. Die weitere Zukunft fordert auch feste und ausdauernde Kräfte in den Kämpfen, die besonders in der Kirche immer schwerer werden. Es ist jetzt eine schwüle Zeit, die mich sehr an die Jahre vor 1848 erinnert; die Gährung der Gemüther in den tiefsten Gegensätzen treibt zu einer Krisis, in welcher nur das und die, welche auf einem festen Grunde stehen, sich wird behaupten können. Zuweilen haben wohl in letzter Zeit Dich meine Gedanken beschäftigt, mit dem Wunsche mein jetziges Amt aufzugeben; doch ist dies nicht leicht gethan und ich muß es doch als die Bestimmung meines Gottes betrachten, daß ich darin ausharren soll: Er wird mich ja nicht versuchen lassen über mein Vermögen!
wieder inVon Clara und Clärchen die herzlichsten Grüße und Glückwünsche; auch von mir viel freundliche Grüße Deiner Frau und Deinen Kindern. In treuer Liebe