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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 29. Mai 1886

Lieber Karl!

Für Deinen lieben Brief vom 16ten dieses Monats1 bin ich Dir sehr dankbar; er war mir eine große Beruhigung, da ich in dieser Zeit Deiner mit herzlicher Theilnahme in den Tagen der Verabschiedung der Familie Lommel gedacht habe. Es ist recht erfreulich, daß sie den Umzug glüklich überwunden und ihre Lebensverhältnisse in München zu ihrer Befriedigung eingerichtet hat. Lommel ist ein so tüchtiger und liebenswerther Mann, daß man nicht zweifeln kann, er werde nach allen Seiten hin Vertrauen und Achtung erwerben und die erwünschte Förderung in seinem Beruf finden. Für Dich bleibt freilich eine große Lüke zurük, die Du täglich schmerzlich empfinden wirst. Wir müssen in unserem Alter überhaupt eine zunehmende Vereinsamung erfahren und können uns nicht mit dem heranwachsenden Geschlecht und den neuen Aufgaben der Gegenwart assimiliren. Ich habe auch ein herzliches Verlangen nach Ruhe und wenn ich im Oktober dieses Jahres mein 50 jähriges Amtsjubiläum werde gefeiert haben, wird die Abnahme meiner Kräfte mich wohl bald bewegen, auch meine Pensionirung zu beantragen. Gegenwärtig fühle ich mich in Folge der Hitze sehr abgespannt; doch kann sich dies wieder bessern. Aber eine Erholung im Sommer wird mir recht nöthig sein, und es wird das Beste sein, sie wieder in der Alpenluft der Schweiz zu suchen, welche mir im vorigen Jahr sehr gut gethan hat. Dieser Absicht kommt Dein liebevolles brüderliches Anerbieten, unser Klärchen in der Zeit meines Urlaubs für einige Wochen in Dein Haus aufzunehmen, in freundlichster Weise entgegen und wir nehmen dasselbe daher auch mit herzlichstem Dank an. Wir sind überzeugt, daß sie sich in Deinem Hause wohl fühlen wird und werden sie gern der schwesterlichen Pflege Deiner lieben Maria anvertrauen. Wann und wohin ich reisen werde, weiß ich noch nicht; am liebsten werde ich wieder nach Engelberg gehen, wo wir gut aufgehoben waren. Meinen Urlaub hoffe ich wie gewöhnlich gegen Ende Juli anzutreten, muß jedoch dabei auf die Reisebedürfnisse meiner Kollegen Rüksicht nehmen. Jedenfalls werden wir auf der gewohnten Fahrt über München nach der Schweiz Euch unser Klärchen überbringen.

Luischen Harsdorf ist nach dem Osterfest2 heimgekehrt; unter Weges hat sie Tante Tholuck besucht, bei welcher sie Anna Mangelsdorf antraf. Diese waren beide krank und mußten sich einer längeren Kur unterziehen. In der vorigen Woche hatten wir den Besuch von der kleinen Ellis, Tochter meines Schwagers Adalbert, in der äußeren Erscheinung ein reizendes Mädchen von ungewöhnlicher Schönheit und Anmuth, auch geistig sehr begabt, aber von solchem Eigenwillen, Trotz und Hochmuth, daß die Eltern mit ihr nicht fertig werden können. Der Vater ist zu weich und gefühlvoll, und die Mutter Ella hat die gleiche Oppensche Natur. Zur Besserung hatten sie das Kind nach Boll zu Blumhardt in Württemberg gebracht; dort hat sie in dem großen Haus und im Verkehr mit vielen Menschen sich sehr wohl gefallen, auch viel religiöse Anregung empfangen, aber damit manche ungesunde Ansichten aufgenommen, so daß ich befürchte, es werde ein friedliches Zusammenleben mit ihr im elterlichen Hause nicht wohl möglich sein.

Mein Willi dankt Dir herzlich für Deine freundlichen Glückwünsche. Alle Welt verwundert sich über seinen plötzlichen Entschluß, nun nachdem er Regierungsrath geworden, noch ein Landrathsamt anzunehmen. Früher war ihm dies sehr angerathen worden und der Minister des Innern hatte ihm schon mehrere solche Stellen angeboten, die aber theils ihm nicht gefielen, theils fand er sich in seinen hiesigen Verhältnissen zu sehr befriedigt. Jetzt hatte er, wie auch Minister von Gossler mir sagte, die sichere Aussicht binnen eines Jahres im Geistlichen Ministerium Geheimer Rath und vor- tragender Rath zu werden, da er sich dort Anerkennung und Werthschätzung erworben hat. Es hat ihn aber die Aussicht verschreckt, hier nun als Ministerialrath für seine Lebenszeit festgenagelt zu werden; dazu fühlt er sich noch zu jung und hat dringendes Verlangen nach einer neuen selbstständigen Thätigkeit. In dieser Stimmung hat er das Anerbieten des Landrathsamts in Burg bei Magdeburg angenommen; da dem Kreistag das Recht des Vorschlags seines Landraths hat, so muß er zunächst die Verwaltung kommissarisch übernehmen in der Hoffnung, nach einem halben Jahre von dem Kreistag zur definitiven Ernennung vorgeschlagen zu werden. Der Uebergang wird ihm nicht leicht werden; er ist hier in jeder Beziehung sehr verwöhnt in geselligem und geistigem Verkehr und hat auch finanziell ohne jede Sparsamkeit leben können. In Burg und dem dortigen ersten Jerichower Kreise hat die Prosa eines malerischen Lebens ihre feste Burg aufgeschlagen und bei den Ansprüchen der Stellung muß er sich in seinen Ausgaben einschränken. Er hat den Entschluß gefaßt und erklärt, ohne vorher mit mir darüber zu sprechen; es begleiten ihn aber meine herzlichen Segenswünsche.

Der Tod von Ranke und wohl noch unmittelbarer der von Waitz haben Dich gewiß herzlich bewegt. Ob Wattenbach des letzteren Nachfolger werden wird?

Deine lieben Kinder grüßen wir herzlich.

Mit treuen Wünschen Dein Bruder Immanuel

P. S. So eben traf bei uns der liebe Brief Deiner Maria ein; Clara sagt ihr dafür herzlichen Dank.