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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Magdeburg, 28. Mai 1843

Lieber Karl!

Ich möchte mich an Deinem Geburtstage2 in gewohnter Weise bei Dir einfinden und Dir meinen herzlichen Glückwunsch bringen. Sodann ich hierbei überlege, daß nun wieder ein schönes Lebensjahr verflossen ist, fällt mir mit Schrecken ein, daß Du nun 30 Jahr alt wirst. Mensch, bemoostes Haupt, halt ein! Du wirst ja erschrecklich alt, und ich muß unvermeidlich Dir folgen. Wie oft möchte ich der Zeit einen Hemmschuh anlegen. Doch können wir uns noch trösten, wenn wir die Zeit nicht vergeudet haben. Hast Du aber auch daran gedacht, daß das 30ste Jahr das Hochzeitsjahr des Menschen ist? – Nun wie es auch sei, ich wünsche, daß Du den festlichen Tag im Kreise Deiner Freunde recht froh verleben mögest.

Von den entfernten Freunden habe ich in den letzten Tagen mancherlei Nachrichten erhalten. Cosimo schickte mir einen Brief von Schmidt zu, er schreibt, daß ihm der Winter im gemüthlichen Familienleben auf das glücklichste verflossen sei, daß er es jedoch dort Livland, in Ermangelung jeder Kunst und Philosophie nicht auf die Dauer aushalten könne und im Sommer nach Deutschland zurückkehren werde, um sich in Heidelberg niederzulassen; ob er sich dort habilitiren will, bemerkt er nicht. mir thut es leid, daß er den sicheren Hafen verläßt, und was will er in Heidelberg machen? Xeller = Cosimo schreibt etwas vom Sumpf und von der Brunnenkur angegriffen; er hat sich in Jacob Böhm vertieft. Auch von Plotho erhielt ich einen Brief, der seine baldige Ankunft ankündigt: er scheint jetzt nach Baiern aufs Freien auszugehen. Endlich hat mich Onkel Gottlieb in einem kurzen Brief gefragt, ob ich Leute in Norddeutschland kenne und weiß, die in Erlangen früher studiert haben; alle ehemaligen Erlanger Studiosen sollen aufgefordert werden, zu einem Stipendienfond zur Unterstützung armer, aber lebensvoller, Studenten beizutragen. Wenn Du welche weißt, so gieb mir deren Namen an.

Das Fest von Schulpforte soll überaus schön ausgefallen sein3; den meisten Ruhm hat aber mein Oberpräsident Flottwell durch seine Reden und Toaste davon getragen. Auf seiner Rückreise kam auch der Minister Eichhorn hierher, und wohnte einer großen Sitzung des Konsistoriums, Provinzial Schul Rath und der 2ten Abtheilung der Regierung, zu der ich gehöre, gestern bei; er wollte eine Gelegenheit haben, sich mit den Provinzialbehörden über seine Prinzipien auszusprechen. Die Sitzung war überaus interessant und merkwürdig; er hielt lange Vorträge über die wichtigsten Fragen in der Kirche mit gewandter Rede und feiner Bildung. Mit den Prinzipien – Vermittlung der Gegensätze, des Negativen, welches zum Destruktiven ausarten, und des Positiven, welches erstarren kann; die Stellung der Staatsgewalt, keiner Partei anzugehören, die Denk- und Glaubensfreiheit, die Entfernung jedes Aufdringens von Glaubensrichtungen; die Entwicklung der Kirchenverfassung, Bildung von Presbyterien und Synoden; Moral und Glauben; Ehescheidungsgesetzen; Verbesserung der Gesangbücher und Katechismen – mit allem diesem, wie er sich darüber aussprach, konnten wir alle nur einverstanden sein; ich hätte meine eigenen Grundsätze kaum anders bestimmen können. Aber die Prinzipien allein machen es nicht; es kommt auf die konkrete Anwendung und die Personen, in deren Hände sie gelegt wird, an. Ihm war es dabei, wie er ausdrücklich erklärte, darum zu thun, sich über diese Grundsätze mit den Provinzialbehörden zu verständigen, sie von der Falschheit des unbegreiflicher Weise entstandenen Mißtrauens und Argwohns gegen die Absichten des Königs und des Ministers zu überzeugen und sie dringend zu ersuchen, diesen irrigen Deutungen auf das entschiedenste überall zu widersprechen.

Gestern Abend war große Gesellschaft beim Oberpräsidenten; der Minister ließ mich ihm vorstellen, sagte mir, daß er Vortheilhaftes von mir gehört habe, erkundigte sich nach unserer Familie, dem Befinden und Aufenthalt der Mutter, sprach von Nürnberg und Schwaben, und indem er mir auf die Schulter klopfte und die Hand drückte, versicherte er mir sein Wohlwollen und daß er hoffe, Gelegenheit zu finden, mir seine Theilnahme zu beweisen; (dies bitte ich jedoch, nicht weiter zu erzählen) das will ich dann ruhig abwarten. – Meine Ernennung zum Bezirkszensor habe ich noch nicht; inzwischen habe ich einen anderen Auftrag erhalten, der zwar ganz ehrenvoll ist, mir aber doch sehr komisch und eigenthümlich vorkam; ich bin nemlich Mitglied der Examinationskommission für die Regierungsreferendarien geworden; einen Referendar habe ich bereits gemacht, einen 2ten werde ich am 8ten Juni vornehmen, und von einem 3ten habe ich auch bereits die schriftliche Arbeit zur Censur. Ich glaube, daß die Herrn Referendare sich beleidigt fühlen, von einem jungen Assessor examinirt zu werden; mir macht es Vergnügen und ich habe dadurch eine Veranlaßung, die alten Compendien und Hefte wieder anzusehen und Theorie zu repetiren.

Grüße Wunderlich bestens, ebenso Karstens und Kierulffs; laß es Dir wohl gehen, lieber Karl, und schreibe bald

 Deinem Immanuel