Berlin den 20sten September 1858.
Lieber Karl!
Wir leben noch immer in der Erwartung, und diese scheint sich so weit auszudehnen, daß ich kaum mehr ebenso lange meine schon sehr verzögerte Antwort an Dich werde hinausschieben können. Es ist wirklich peinlich und lähmend fortgesetzt nicht bloß täglich, sondern fast stündlich auf den entscheidungsvollen Moment gefaßt sein zu müssen. Wir hatten unsere Rechnung auf den 15ten dieses Monats gemacht; die Hebamme erklärte uns aber schon vor 4 Wochen, daß es gewiß nicht länger, als bis zu den ersten Tagen des Septembers dauern würde. Wir lebten daher in der Erwartung, daß es etwa mit dem 5ten dieses Monats zusammentreffen möchte; nun ist aber auch dieser Termin schon längst vorüber. Friederike hat sich übrigens in dieser ganzen Wartezeit im Ganzen wohl befunden, und auch an vielen geselligen Bewegungen in der Familie Flottwell ohne Nachtheil Theil genommen.
Zur Begrüßung der Eltern bei ihrer Rückkehr fuhren wir am 26 ten vorigen Monats alle zusammen nach Potsdam und überraschten sie durch unseren Empfang. Sie sind alle, namentlich auch die Mutter durch die Reise sehr erfrischt und | gestärkt worden und hat dies auch bis jetzt noch ganz gut vorgehalten. Sie waren ins besondere auch sehr erfüllt von ihrem Aufenthalt in Nürnberg und voller Dank für Deinen freundlichen Empfang und liebenswürdige Aufnahme, welche sie bei Onkel Siegmund und in dem ganzen Familienkreise gefunden; sie erzählten voll Entzücken von dem schönen Abend, den sie beim Onkel zugebracht hatten.
Friederikes Aufenthalt in Potsdam beschränkte sich auf wenige Tage und wir fingen dann bald an zu warten. Inzwischen kam der Geburtstag und auf Risiko wurde bei uns im Hause ein festliches Mahl bereitet. Am Abend vorher war die liebe Klarine angekommen, welche in schwesterlicher Liebe sich wieder zur Pflege erboten und daher noch bei uns verweilte. Am Geburtstage kamen nun nicht allein die Eltern mit Clara herüber, sondern es überraschte uns auch Bruder Herrmann, der mit Frau und
Kind zum Besuch am Morgen eingetroffen war. Endlich hatten wir als Gäste den alten Freund Skalley und den lieben Freund Rothe mit seiner ältesten Tochter aus Marienwerder eingeladen. Also war das Haus ziemlich | voll und zu Mittag eine große Tafel. Indessen wurde dieser bewegte Tag recht glücklich überstanden und froh und dankbar erlebt. Freund Rothe, dessen Du Dich wohl auch noch erinnern wirst, da wir in den Jahren 1846–48 einen sehr nahen freundschaftlichen Verkehr mit ihm und seiner – leider verstorbenen – trefflichen Frau unterhielten, einen Umgang, den ich oft noch recht schmerzlich vermisse, war auf der Rückkehr von einer längeren Reise und hielt sich einige Tage hier auf; es war mir eine große Freude, diesen braven Mann vom edelstem Korn wieder zu sehen und gründlich mich mit ihm auszusprechen.
Herrmann war mit seiner Pauline gekommen, um uns seinen stattlichen Jungen zu zeigen; sie blieben bis zum 14ten dieses Monats in Potsdam und sind dann wieder nach ihrem Gute Lautensee zurückgekehrt; er wirthschaftet dort mit Lust und Eifer und scheint ihm zu einer befriedigten Existenz für jetzt nichts weiter zu fehlen.
Diese Besuche brachten manche Bewegung in unser Haus; dabei haben wir das schönste Herbstwetter, welches Friederike auch täglich zum Spazierengehen benutzen konnte. Die Kinder sind, kleine Zufälle abgerechnet, wohl und die älteren freudig in ihren Schulen.
An Eurem freundlichen und erquicklichen Aufent- | halt in Muggendorf haben wir uns recht erfreut, und sind Euch noch mit größerer Theilnahme nach dem alten lieben Simmelsdorf gefolgt, an welchen Dich so viele glückliche Erinnerungen knüpfen. Wie werden sich die Kinder dort getummelt haben! – Friederike sagt Euch für Eure liebevollen geschwisterlichen Wünsche den herzlichsten und innigsten Dank; wenn sie gewußt hätte, daß sie noch so lange Frist zum Briefschreiben behalte, so würde sie sich früher daran gemacht haben, Euch selbst mit einigen Zeilen zu danken. Jetzt glaube ich aber, daß sie schwerlich noch dazu kommen wird.
Die Zeitungen erörtern jetzt viel die Regentschaftsfrage, und erzählen Vieles, was nur in der Einbildung beruht. Die Entscheidung ist erst in einigen Tagen nach der Rückkehr des Prinzen von Preußen aus Schlesien zu erwarten. Ob der König sich dazu entschließen wird, ihm die Regentschaft zu übertragen, ist noch bis heute sehr zweifelhaft.
Schließlich erlaube ich mir, die Uebersendung der Obligationen der Preußischen
Staats-Anleihe, der Niederschlesisch Märkischen Prioritäts-Aktien und der Staatsschuldscheine, welche ich Dir in einem früheren Briefe näher bezeichnet habe, zur Beschaffung neuer Coupons in Erinnerung zu bringen. – Am Anfang October wird Dein Guthaben bei mir circa 65 Taler betragen und bitte ich um Bescheid, ob ich Dir diese Summe schicken soll. –
Ich habe diesen Brief bis heute morgen liegen lassen in der Hoffnung, Dir die Nachricht der Erleichterung bringen zu können; es will aber noch nicht kommen; vielleicht wartet es nur auf den Abgang dises Briefes, also | will ich ihn sofort abgehen lassen, wenn ich auch vielleicht morgen Dir schon wieder schreiben muß. Mit den herzlichsten Grüßen von Friederike an Euch Alle und in treuer Liebe Dein
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Privatbesitz
.
Privatbesitz
1000
Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Flottwell, Eduard HeinrichEduard Heinrich Flottwell11663107417861865Flottwell, Eduard Heinrich (1786–1865), preußischer Staatsmann, Minister und oftmaliger Oberpräsident, u. a. von 1841 bis 1844 Oberpräsident der Provinz Sachsen, 1849/50 Oberpräsident der Provinz Preußen, 1850 Oberpräsident der Provinz Brandenburg, Schwiegervater Immanuel Hegels (1814–1891).
KlarineKlarine, siehe: Klen, Klarin.
Flottwell, Johanna Pauline, geb. Frantzius
-18341897Flottwell, Johanna Pauline, geb. Frantzius (1834–1897), siehe auch: Frantzius, Johanna Pauline.
Skalley, Eugen Friedrich Reinhold105542925517851867 Skalley, Eugen Friedrich Reinhold (1785–1867), Jurist, Geheimer Regierungsrat, Geheimer Oberfinanzrat, 1848 Vortragender Rat im Königlich Preußischen Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten in Berlin und beauftragt mit den Direktionsgeschäften der Abteilung für das Berg-, Hütten- und Salinenwesen, 1855 dort Ministerialdirektor.
Rothe, Carl Wilhelm Septimus105350073418121876Rothe, Carl Wilhelm Septimus (1812–1876), in Marienwerder geborener katholisch-apostolischer Geistlicher, der sich nach seinem Studium der evangelischen Theologie an den Universitäten Bonn und Berlin der Katholisch-apostolischen Gemeinde in Berlin zuwandte, einer aus England kommenden christlichen Bewegung, die sich von den 1840er Jahren an in Deutschland ausbreitete.
Wilhelm I., König von Preußen, Deutscher KaiserWilhelm I., König von Preußen, Deutscher Kaiser11863288417971888Wilhelm I. (1797–1888), Prinz von Preußen, König von Preußen von 1861 bis 1888, ab 1871 auch Deutscher Kaiser.
Friedrich Wilhelm IV., König von PreußenFriedrich Wilhelm IV., König von Preußen11853599417951861Friedrich Wilhelm IV. (1795–1861), war von 1840 bis 1858/61 König von Preußen.
Potsdam52.4009309,13.0591397Garnisons- und Residenzstadt des Königreichs Preußen an der Havel, etwa 30 Kilometer südwestlich von Berlin gelegen.
Nürnberg49.453872,11.077298In Franken an der Pegnitz gelegene ehemalige Reichsstadt, seit 1806 Stadt des Königreichs Bayern.
Marienwerder52.8416198,13.59903Etwa 45 Kilometer nördlich von Berlin gelegene Gemeinde.
Lautensee53.94772,19.29229Etwa 40 Kilometer südlich von Elbing und etwa 560 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegener Gutsbezirk in Westpreußen.
Muggendorf49.8035845,11.262593Ferienort an der Wiesent in der Fränkischen Schweiz, etwa 50 Kilometer nördlich von Nürnberg und etwa 35 Kilometer nordöstlich von Erlangen gelegen.
Simmelsdorf49.5972637,11.3379197Namengebender Sitz der Nürnberger Patrizier-Familie Tucher von Simmelsdorf, 1598 erworben, nordöstlich der alten Reichsstadt Nürnberg gelegen. Das Alte Tucher-Schloß, ursprünglich ein Wasserschloß, wurde in den 1830er Jahren im gotischen Stil umgebaut, das „Neue Herrenhaus“ 1808 erbaut.
SchlesienSeit Beginn des 19. Jahrhunderts Provinz des Königreichs Preußen mit Breslau als Provinzhauptstadt.
RegentschaftVerfassungsrechtlich festgelegte stellvertretende Ausübung der Herrschaft für einen Monarchen, der diese nicht selbst ausüben kann, weil er noch minderjährig ist, weil er aus Krankheitsgründen regierungsunfähig ist oder weil er sich außer Landes aufhält.
ObligationSchuldverschreibung für festverzinsliche Wertpapiere in der Form von öffentlichen Staatsanleihen, in der sich der Aussteller dem Gläubiger gegenüber zu einer Geldleistung mit laufender Verzinsung verpflichtet.
Preußische Staats-Anleihe von 1850Staatsanleihen bzw. Staatsschuldverschreibungen sind öffentliche Anleihen mit dem Staat als Schuldner. Nach der preußischen Staatsverfassung von 1850 konnten solche Anleihen für die Staatskasse nur per Gesetz ausgeschrieben werden.
Actien, AktienWertpapier, das den Anteil an einer Aktiengesellschaft in Urkundenform benennt.
StaatsschuldscheinEine vom Staat als Schuldner ausgestellte Urkunde für den Gläubiger, mit der er beweisen kann, daß der Staat sein Schuldner ist.
CouponDividendenschein bei Wertpapieren, der zur Einlösung von Gewinnanteilen oder Zinsen am Tag der Dividendenausschüttung berechtigte.