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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 25. Mai 1876

Lieber Karl!

Heute vor 11 Jahren war ein sehr heißer, schwüler Tag, der am Abend mit einem heftigen Gewitter endigte. Es war der Todestag des alten Vaters Flottwell, der auch am Himmelfahrtstag1 lebensmüde zur ewigen Ruhe einging.2 Wieviel hat sich in diesem Zeitraum in meinem Hause, in der Familie, in der äußeren Welt verändert! Wunderbar sind des Herrn Wege und ich kann nur Seine Güte und Gnade preisen. Aber das Bedürfniß der Ruhe stellt sich auch bei mir immer mehr ein; der liebste Moment des ganzen Tages ist mir, wenn ich mich mit dem Bewußtsein, die Tagesarbeit leidlich vollbracht zu haben, müde uns Bett legen und mich behaglich zum Schlaf ausstreken kann. So schaue ich schon öfters auch nach dem Zeitpunkte aus, an dem ich, wenn ich ihn erlebe, mein viel angefochtenes Amt werde getrost niederlegen dürfen, um mich in dem Ruhestand einer freien gleichmäßigen Beschäftigung erfreuen zu können. In diesem Herbst vollende ich mein vierzigstes Dienstjahr; doch möchte ich auch noch die Zeit abwarten, da mein Sohn nach bestandenem Staatsexamen: zu einer Anstellung und damit zu einem selbstständigen Einkommen gelangen wird. Dies kann freilich noch an zwei Jahren dauern, und es ist mir sehr zweifelhaft, ob die immer schwieriger werdenden Verhältnisse in unserer Kirche mir noch eine so lange Wartezeit gestatten werden. Bei einer fortschreitenden Zerrüttung und Auflösung der Landeskirche durch ein liberales Kirchenregiment, welche nun auch durch die neue Synodalverfassung wahrscheinlich sehr befördert werden wird, werde ich schwerlich meine Stellung im Kirchenregiment behaupten können. Doch werde ich mich bemühen, nicht darin eine voreilige Entschließung zu fassen; in der Beurtheilung der Zukunft kann man sich leicht irren, und ich darf nicht in meinem Gewissen und von Anderen den Vorwurf auf mich laden, daß ich den mir angewiesenen Posten aus Eigenwillen oder Furcht oder aus Mangel an Selbstverläugnung und Treue verlassen hätte. So will ich denn ferner getrosten Muthes in der Zuversicht auf Gottes gnädigen Beistand von einem Tage zum anderen fortarbeiten, und der Dinge warten, die nach des Herrn Willen kommen werden.

Willi ist gegenwärtig in Küstrin, wo er beim 48sten Infanterie Regiment als Reserveoffizier einen sechswöchentlichen Dienst zu verrichten hat. Zum 1sten Juli wird er nach Waldenburg gehen, um einen dortigen Rechtsanwalt von Chappuis in seinen Geschäften während drei Monaten zu vertreten; es ist dies eine vorgeschriebene Station in seiner Ausbildung, und er hat das mit einiger Remuneration verbundene Anerbieten um so lieber angenommen, als er dort mit den Geschwistern zusammen sein wird. Wir hoffen auch sie im September daselbst auf einige Tage zu besuchen, da wir am Anfang August wieder nach Johannisbad in gewohnter Weise zu ziehen beabsichtigen. Hoffentlich werde ich dort noch die Wohnung bekommen, welche ich in den vorigen Jahren benutzt habe.

Am nächsten Montag3 will ich eine Dienstreise mit Büchsel zu einer Kircheneinweihung bei Züllichau unternehmen; es ist dort der Superintendent Böhricht, welchem ich meine besondere Theilnahme und Anerkennung zu bezeugen wünsche. Ich habe mich bisher selten zu Dienstreisen entschlossen, theils aus Bequemlichkeit, theils weil ich mich hier schwer von dem Andrang der Geschäfte losmachen kann. Auch trage ich Bedenken die armen Superintendenten und Pastoren in Unkosten zu versetzen, und bin auch in Gefahr, von der Presse mit gar zu aufmerksamen Blicken verfolgt zu werden. Die freundliche Einladung und Büchsels gute Begleitung haben mich aber diesmal bewogen, die gewohnte Tagesordnung zu unterbrechen.

Zu Pfingsten4 war es in Aussicht, daß wir eine Einladung von Knoblauchs nach Pessin im Havellande zu erwarten hatten; doch scheint jetzt nichts daraus zu werden, und wir werden uns begnügen, an einem Festtage die alten Bitters am Wannensee zu besuchen, wo sie bereits ihr Sommerquartier aufgeschlagen haben. In der folgenden Trinitatiswoche5 werden dann die Missionsfeste und Pastoral-Konferenzen statt finden und meine Zeit daher in Anspruch nehmen. Bei den Bewegungen in der Kirche ist eine lebhafte Theilnahme zu erwarten. Auch habe ich in derselben Woche eine General-Versammlung der Preußischen Haupt-Bibelgesellschaft abzuhalten, um ein revidirtes Statut zur Berathung zu bringen.

Ueber Deine Ernennung zum korrespondirenden Mitglied der hiesigen Akademie habe ich mich sehr gefreut.6 „Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle.“7 Hoffentlich gilt dies auch von der Feier Deines Geburtstags8, welcher in der Pfingstwoche wiederkehren wird. Ich bringe Dir dazu schon jetzt meine herzlichen brüderlichen Glückwünsche. Möge für Dich ein friedsames und möglichst dornenfreies Jahr beginnen! An Gottes Segen, ist dabei Alles gelegen. Warmherzlich wünsche ich, daß Dir Dein Georg keinen weiteren Kummer bereiten und es Dir gelingen möchte, ihn zu einer befriedigenden Thätigkeit in seinem Lebensberufe zu bringen und ihn in allen Wegen mit herzlicher Geduld zu tragen und mit väterlicher Liebe zu leiten.

Von Onkel Gottlieb erhielt ich kürzlich einen Kupferstich von Wagner in München nach der Kreuzabnahme9 von Rubens mit dem Wunsche, daß ich seinen Absatz hier zum Besten des dortigen evangelischen Waisenhauses befördern möchte. Es ist dies eine schwierige Aufgabe für hiesige Verhältnisse; doch habe ich einige Subscribenten zusammengebracht. Er wird in der nächsten Zeit mit der Tante wieder nach Marienbad gehen. – Von der Hochzeit Deines Schwagers Friedrich bitte ich mir seiner Zeit Nachricht zu geben10, damit ich auch meine Theilnahme dabei bezeugen kann. – Von Frau Clara und Tochter Klärchen aller Seits die herzlichsten Grüße und in

treuer Liebe Dein Bruder Immanuel