Berlin den 24sten October 1875
Lieber Karl!
Durch Vetter Lommel haben wir erfahren, daß der wackere Mundel an dem Scharlachfieber erkrankt sei und Ihr dadurch in Sorge versetzt worden. Wenn nun auch die weiteren Nachrichten günstig lauteten und einen regelmäßigen Verlauf der Krankheit erwarten ließen, so wird es uns doch zur Beruhigung dienen, wenn uns dies ausdrücklich bestätigt werden möchte, und wünschen daher bald wieder von Euch Nachricht zu erhalten. Eine sehr unangenehme Folge ist jedenfalls die längere Trennung Eures Hauses von Lommels. Wir hatten hier inzwischen die Freude, den lieben gemüthlichen Vetter Lommel bei uns beherbergen zu können, und es konnte dieses nähere Beisammensein nur dazu beitragen, daß wir alle ihn noch mehr schätzen und lieben lernten. Es ist besonders höchst achtungswerth an ihm sein einfaches ruhiges und anspruchsloses Wesen bei solcher vielseitigen gründlichen Bildung und inneren Gediegenheit. Er schien von seinem hiesigen Aufenthalt, der freilich sehr kurz war und bei dem er sich auf das Nothwendigste beschränkte, im Ganzen befriedigt zu sein; das Theater hat er möglichst fleißig besucht; wir sahen mit ihm zusammen mit großem Genusse eine Aufführung der Armide. Leider war das Wetter zum Theil schlecht; er ließ sich aber davon | wenig in seiner Gemüthsruhe anfechten. Nach seiner Abreise ist noch ein rosa seidenes Büchelchen uns zugesandt worden, welches er zum Mitbringen eingekauft hatte. Clara wird es morgen ihm nachsenden.
Lommel wurde in unserem Besuchszimmer von Maria Trinkler aus Magdeburg abgelöst. Das Zusammentreffen war nicht mehr zu vermeiden, da Maria sich bestimmt angesagt hatte und es vorher viel Zuredens bedurfte, um sie einmal flott zu machen. Sie leidet noch immer sehr und unverändert an den Augen und mußte sich hier zweimal mit Morphium einspritzen lassen, um die Schmerzen an den Augen ertragen zu können. Sie ist aber dabei immer liebenswürdig in ruhiger Ergebenheit und freundlicher Theilnahme.
Eine unerwartete und unerfreuliche Episode in unserem häuslichen Leben war die plötzliche Reise von Clara nach Waldenburg; dort waren leider Mariens Hoffnungen, welche sie seit zwei oder drei Monaten hegte, zu Nichte geworden; sie hatte in Erwartung eines Besuches in ihrem Hause zu viel gewirthschaftet und geräumt und dann noch mit ihren Gästen, einem Ehepaar von Voss eine weitere Spazierfahrt unternommen, welche die Krisis herbeiführte. In dieser häuslichen Noth und in Ermangelung einer anderen Pflege wurde die Hülfe der Mama begehrt, welche dann auch sofort hinreiste und 14 Tage | dort verweilte. Sie hat Marie in guter Besserung und völlig beruhigt wieder verlassen. Inzwischen hat auch Vater Bitter sie auf einer Dienstreise in Waldenburg besucht und sich über Mariens Befinden gegen uns ganz befriedigt ausgesprochen.
Du hast inzwischen auch Manches unternommen und warst in München bei der historischen Kommission. Gestern las ich einen Bericht davon in der Zeitung, wobei mir auffiel, daß Ranke doch ausgeblieben, dagegen Sybel, wohl zum erstenmale, anwesend war. Ich vermuthe, daß ihn der brennende Kampf mit den Ultramontanen besonders dazu gereizt haben mag. Vorläufig sind sie nun auch unterlegen; sie haben es freilich ungeschickt und roh genug angefangen. Aber bis zum Sieg und Frieden ist noch ein langer Weg hier und dort. Der alte Kaiser erfreut sich jedoch des begeisterten Zujauchzens des italienischen Volkes und wir können wohl stolz darauf sein, daß Deutschland dort auf eine so würdige und liebenswürdige Weise von ihm vertreten wird. Uebermorgen will er nun schon hier der Feier der Enthüllung des Steinschen Denkmals beiwohnen; man ist immer bei ihm in Sorge, daß es des Guten für ihn zu viel werden möchte. Ich fühle mich glücklich in meiner Unbedeutenheit meine Gesundheit schonen zu können und wenn es am Dienstag so naß und kalt, wie heute ist, werde ich mir | bei aller Verehrung für Stein das Vergnügen und die Ehre meiner Theilnahme sparen.
Die zu erwartende außerordentliche General-Synode zieht sich noch immer weiter hinaus, da die Rückkehr des Kaisers zur Genehmigung des Verfassungsentwurfs und zur Ernennung der vom Landesherrn zu berufenden Mitglieder abgewartet werden muß. Es war der vielseitige Wunsch und Antrag, daß die Synode auch mit der Berathung einer Trau- und kirchlichen Eheordnung beauftragt werden möchte; der Evangelische Ober-Kirchenrath hat dies aber jetzt abgelehnt. Inzwischen haben wir jetzt die 4 Berliner Kreissynoden zu einer Gesammt-Synode vereinigt und in derselben ist der Beschluß gefaßt, die Stolgebühren für Berlin allgemein aufzuheben und dafür eine Kirchensteuer für alle evangelischen Einwohner Berlins einzuführen. Es ist dies sehr schwierig, aber unvermeidlich. Eine neue Steuer ist nicht beliebt, besonders in der jetzigen nahrungslosen Zeit und noch dazu für die Kirche! Es kann geschehen, daß Viele austreten; wir werden das aber als eine erwünschte Reinigung betrachten.
Clara und die Kinder tragen viele herzliche Grüße auf. Sie wünschen auch zu erfahren, wie Ihr Eure Kinder in München getroffen habt und wie es dem lieben alten Onkel Gottlieb gehen mag.
In herzlicher Liebe
Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel)Immanuel HegelJurist/Konsistorialpräsident der Provinz Brandenburg11657072518141891 Hegel, Immanuel (Manuel, Emanuel) (1814–1891), Bruder Karl Hegels, studierte von 1832 bis 1834 und von 1835 bis 1836 Jura an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, von 1834 bis 1835 an der Ludwigs-Maximilians-Universität in München, trat 1836 in den preußischen Staatsdienst ein und war als Verwaltungsjurist in verschiedenen Verwendungen des Königreichs Preußen, vor allem im Staatsministerium, tätig, wurde 1865 Präsident des Konsistoriums der Provinz Brandenburg, heiratete 1845 Friederike Flottwell (1822–1861) und 1865 Clara Flottwell (1825–1912), beide Töchter des oftmaligen preußischen Oberpräsidenten und Staatsmanns Eduard Heinrich Flottwell (1786–1865), war u. a. Vater des preußischen Verwaltungsbeamten und Politikers Wilhelm (Willi) Hegel (1849–1925), war 1856 Taufpate seines Neffen Georg Hegel (1856–1933).
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Berlin52.5170365,13.3888599Hauptstadt des Königreichs Preußen und ab 1871 auch des Deutschen Reiches.
Privatbesitz
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Privatbesitz
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Neuhaus
, Helmut (Hg.): Karl Hegels Gedenkbuch. Lebenschronik eines Gelehrten des 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 2013.
Neuhaus
, Karl Hegels Gedenkbuch
2013
Neuhaus
, Helmut: 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008.
Neuhaus
, 150 Jahre Historische Kommission
2008
Lommel, Eugen Cornelius JosephEugen Lommel10427615018371899Lommel, Eugen Cornelius Joseph (1837–1899), in der Rheinpfalz geborener Physiker und Mathematiker, der von 1854 bis 1858 an der Universität München studierte, Lehrer in der Schweiz und dann Privatdozent an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich wurde. 1867/68 war er Professor an der land- und forstwirtschaftlichen Akademie in Hohenheim und von 1868 bis 1886 Ordinarius an der Universität Erlangen, schließlich an der Universität München. Er war der Ehemann Luise Hegels (1853–1924), der zweitältesten Tochter Karl und Susanna Maria Hegels (1826–1878).
Hegel, Sigmund (Mundel, Mundulus, Munerle)Sigmund Hegel11657085718631945Hegel, Sigmund (1863–1945), sechstes Kind (zweiter Sohn) Karl (1813–1901) und Susanna Maria Hegels, geb. Tucher (1826–1878), Mitglied des Corps Onoldia in Erlangen, Chemiker, Kaiserlicher Geheimer Regierungsrat am Reichspatentamt in Berlin.
Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell
Clara Hegel, geb. Flottwell116570776?18251912Hegel, Clara (Klara), geb. Flottwell (1825–1912), Tochter Eduard Heinrich Flottwells (1786–1865) und Auguste Flottwells, geb. Lüdecke (1794–1862), jüngere Schwester Friederike Hegels, geb. Flottwell (1822–1861), der ersten Ehefrau Immanuel Hegels (1814–1891) und dessen zweite Ehefrau ab 8. September 1865.
Voss, N. N.-Voss, N. N., Ehepaar in Waldenburg.
Bitter, (Hans) Rudolf, der Ältere116962293318111880Bitter, (Hans) Rudolf, der Ältere (1811–1880), in Schwedt an der Oder geborener preußischer Finanzbeamter, der nach seinem Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Bonn ab 1834 in die preußische Verwaltung in Posen, Merseburg und Köln ging, bevor er seine berufliche Laufbahn im preußischen Finanzministerium fortsetzte und es 1866 zum Ministerialdirigenten brachte. 1869 wurde er dort Unterstaatssekretär, 1873 Präsident der königlich-preußischen Seehandlung. Verheiratet war er mit Anna Bitter, geb. Nauen (1819–1885).
Ranke, LeopoldLeopold Ranke
HiKo
11859827917951886Ranke, Leopold (1795–1886), in Wiehe geborener deutscher Historiker, der von 1818 bis 1824 Gymnasiallehrer in Frankfurt an der Oder war. Im Jahre 1824 wurde er außerordentlicher Professor, 1834 ordentlicher Professor für Geschichte an der Berliner Universität. Von 1858 an war er erster Präsident der von ihm initiierten Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Sybel, HeinrichHeinrich Sybel
HiKo
11862022318171895Sybel, Heinrich (1817–1895), in Düsseldorf geborener Historiker, Politiker und Archivar, der nach seinem Studium im Jahre 1838 an der Berliner Universität promoviert und 1840 an der Universität Bonn habilitiert wurde. Als ordentlicher Professor wirkte er an den Universitäten Marburg (1845–1856), München (1856–1861) und Bonn (1861–1875) und übernahm von 1875 bis 1895 als Direktor die Leitung der Preußischen Staatsarchive. Im Jahre 1858 gehörte er in München zu den Gründungsmitgliedern der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, gründete 1859 die Historische Zeitschrift und war von 1886 bis 1895 Präsident der Historischen Kommission in München. Im Jahre 1848 war er Mitglied des Frankfurter Vorparlaments, 1850 Mitglied des Erfurter Unionsparlaments, von 1874 bis1880 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses.
Wilhelm I., König von Preußen, Deutscher KaiserWilhelm I., König von Preußen, Deutscher Kaiser11863288417971888Wilhelm I. (1797–1888), Prinz von Preußen, König von Preußen von 1861 bis 1888, ab 1871 auch Deutscher Kaiser.
Stein, Heinrich Friedrich KarlHeinrich Friedrich Karl Stein11861727317571831Stein, Heinrich Friedrich Karl (1757–1831), in Nassau an der Lahn geborener preußischer Staatsmann, Verwaltungs- und Staatsreformer sowie Gründer der Monumenta Germaniae Historica.
Klein, FelixFelix Klein11856286X18491925Klein, Felix (1849–1925), in Düsseldorf geborener Mathematiker, der von 1872 bis 1875 ordentlicher Professor an der Universität Erlangen war, dann bis 1880 an der Technischen Hochschule München, bis 1886 an der Universität Leipzig und bis 1913 an der Universität Göttingen, Ehemann Anna Maria Carolina Kleins, geb. Hegel (1851–1927).
Magdeburg52.1315889,11.6399609Hauptstadt der preußischen Provinz Sachsen an der Elbe und Sitz des Regierungspräsidiums Magdeburg, etwa 150 Kilometer westlich von Berlin gelegen.
Waldenburg50.7659054,16.2825424Etwa 75 Kilometer südwestlich von Breslau am Rande des Riesengebirges gelegene, sich rasche entwickelnde Handels- und Industriestadt im Landkreis Waldenburg.
München48.1371079,11.5753822Haupt- und Residenzstadt des Königreichs Bayern an der Isar in Oberbayern.
DeutschlandKulturgeschichtlich ist damit der Raum deutscher Nation und Sprache gemeint, wo „Teutschland“ im Laufe der Frühen Neuzeit eine Kurzbezeichnung für das „Heilige Römische Reich teutscher Nation“ wurde. Im 19. Jahrhundert wurde „Deutschland“ immer mehr zur inoffiziellen Bezeichnung für die deutschsprachigen Gebiete Mitteleuropas, zunächst das Gebiet des 1815 gegründeten Deutschen Bundes, dann des 1871 gegründeten Deutschen Reiches.
Scharlach(fieber)Bakterielle Infektionskrankheit, die vor allem bei Kindern auftritt.
ArmideOper in fünf Akten von Christoph Willibald Gluck (1714-1787), uraufgeführt am 23. September 1877 in Paris.
Historische Commission/Kommission, MünchenIm Jahre 1858 in München auf Anregung des Berliner Historikers Leopold Ranke (1795-1886) vom bayerischen König Maximilian II. Joseph (1811-1864) bei seiner Akademie der Wissenschaften gegründete Institution zur Erforschung der deutsche Geschichte.
Stein-Denkmal (Berlin)Von dem „Zentralverein zum Zwecke der Errichtung eines Denkmals für den Minister Freiherrn vom Stein“ angeregt, entwarfen die Bildhauer Friedrich Anton Schievelbein (1817-1867) und Hugo Hagen (1818-1871) das Berliner Denkmal des Reichsfreiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757-1831). 1867/68 in Bronze gegossen, wurde es mit seiner Gesamthöhe von 7,80 Metern erst am 26. Oktober 1875 auf dem damaligen Dönhoffplatz in Anwesenheit des Kronprinzen Friedrich Wilhelm von Preußen (1831-1888) enthüllt und der Stadt Berlin übergeben.
SynodeVersammlung von gewählten Laien und Geistlichen zur Leitung und Verwaltung der evangelischen Kirchen auf verschiedenen Ebenen, u. a. Stadt-, Provinzial- und Generalsynoden.
OberkirchenratGeschäftsführende oberste Institution zur Verwaltung der Landeskirche.
StolgebührenKirchliche Gebühren für geistliche Handlungen wie Taufen, Trauungen oder Beerdigungen, bei denen der Geistliche eine Stola umlegt. Vor Einführung der Kirchensteuer waren sie für die Kirche von großer finanzieller Bedeutung.
KirchensteuerIn den Staaten des Deutschen Bundes im Laufe des 19. Jahrhunderts zu unterschiedlichen Zeiten eingeführte Steuer, die vom Staat zugunsten der Kirchen für die Finanzierung ihrer Aufgaben wie u. a. Bezahlung des geistlichen Personals, Unterhaltung von Kirchengebäuden oder Finanzierung sozialer Einrichtungen erhoben wurde.