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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 12. September 1882

Lieber Karl!

Seit zehn Tagen sind wir wieder heimgekehrt und man lebt sich dann rasch in das gewohnte Treiben wieder ein. Zunächst erwarteten mich aber viele Geschäfte, so daß ich in der ersten Zeit nicht zum Briefschreiben kommen konnte. Deinen lieben Brief1 von Kloster Banz haben wir in Hornbäk empfangen und uns an der schönen Schilderung Deines Aufenthalts da droben auf dem Berge mit Kindern und Kindeskindern erfreut.2 Die Gegend ist mir wohl bekannt; ich bin oft vorbeigefahren, habe zuweilen in Lichtenfels Station gemacht, bin auch einmal mit Friederike zu dem leichter erreichbaren Vierzehnheiligen hinaufgewandert. Auch Tabarz ist ein schöner Punkt im deutschen Lande, den wir von Friedrichsroda aus wiederholt besucht haben. Hoffentlich habt Ihr zur Wanderung noch Reinhardsbrunn, in dem ungeheuren Grund, auf dem Uebelberg, zur Tanzbuche auf dem Inselberg günstiges Wetter gehabt; alle diese Namen wecken in mir schöne Erinnerungen vergangener Zeiten. Diesmal sind wir aber zur See nach dem Norden gefahren, und wenn auch das Unternehmen nach Seeland an der Grenze des Sunds und Kattegats etwas abentheuerlich erschien, so ist es doch, durch besondere Umstände begünstigt, recht befriedigend ausgefallen.

Die Lage des Fischerdorfs Hornbäk habe ich Dir in meinem Briefe3 von dort geschildert. Wir haben hier ein sehr gemüthliches Stillleben geführt. Die See in ihren wechselnden Erscheinungen, oft vom Sturm bewegt, dann wieder im Sonnenglanz von erhabener Schönheit; dann das Fischerleben, wie an jedem Morgen die Kähne mit ihrem Fang auf hoher See zur Nacht mit Spannung erwartet wurden – in der letzten Zeit wurden viele Tausende von Heringen nach Haus gebracht und an die schaarenweise sie erwartenden Händler verkauft. Allerdings fehlte es in diesen Wochen nicht an Wind und Regen; doch kamen dazwischen wieder schöne Tage, die zu Ausflügen nach den Strandörtern Hellebäk und Nakkehoved an der höchsten Spitze von Seeland, nach dem Eromsee im Land, nach den Schlössern Fridensborg und Fredericksborg im Renaissancestyl mit ihren prachtvollen Parks und Buchenwaldungen von seltener Schönheit benutzt wurden. Mit General von der Groeben und seiner Familie unternahmen wir auch an einem Sonntag eine Fahrt nach Helsingborg in Schweden auf der anderen Seite des Sund, wo, wie üblich, das berühmte schwedische Frühstück mit 20 verschiedenen Schüsseln, dabei beliebigen Schnäpsen und dergleichen erprobt und ausgezeichnet gefunden wurde. Eine besondere Ueberraschung bereiteten uns aber Rudel und Marie, die mehrere Wochen in Sassnitz auf der Insel Rügen zubrachten und uns eines Morgens durch Telegramm von Kopenhagen benachrichtigten, daß sie nach Helsingör am Vormittag kommen würden und uns hier erwarteten. Wir haben dann dort und in Marienlyst mit ihnen mehrere Stunden angenehm verlebt. Wir sind dann von Hornbäk, wo wir 30 Tage zubrachten, mit herzlichem Dank und den angenehmsten Erinnerungen geschieden. Namentlich trennten wir uns von dem alten ehrwürdigen Schiffskapitain Mogensen, unserem Nachbar, der uns bei allen vorkommenden kleinen Bedürfnissen mit Rath und That aushalf, und seiner Familie mit wärmsten Dank; ein gutherziger Mann, der viele Länder gesehen, manche Gefahren bestanden, sich eine schöne Bildung des Herzens und reiche Lebenserfahrung angeeignet, und nun auch im Alter unermüdlich thätig, ein friedsames Leben führt und gern Jedermann dient und in liebenswürdigster Weise gefällig erweist.

Von Helsingör fuhren wir wieder mit dem Dampfboot nach Kopenhagen; hier blieben wir nur den folgenden Vormittag, den Clara zu manchem Einkaufe benutzte. Zu einem Besuch beim Bischof Martensen hatte ich keine Zeit4; es wäre mir wohl sehr interessant gewesen, ihn kennen zu lernen, da ich ihn nach seinen trefflichen Werken – Dogmatik5 und Ethik6 – hoch verehre. Wenn ich ihn aber aufsuchte und antraf, so wäre dies nicht kurz abzumachen gewesen sein. Wir bestiegen daher schon am Donnerstag Nachmittag die Titania7 und hatten eine sehr bewegte Fahrt mit strömenden Regen und Hagelwetter. Clara und Klärchen mußten auch den üblichen Tribut bezahlen, während ich unangefochten blieb. Nun hatte Clara den lebhaften Wunsch, zum Schluß noch einen Besuch in Häringsdorf zu machen, um dort die von Bethanien8 kürzlich eingerichtete Kinderstation zu besuchen. Obwohl ich dagegen manche Bedenken zu erheben hatte, so ging ich doch bei ihrem entschlossenen Muth darauf ein. Wir landeten daher in Swinemünde in der Nacht um 3 Uhr; zum Glük war ruhiges Wetter und der Mond schien; noch größer und unerwarteter war es, daß am Ufer ein Wagen bereit stand, um uns sogleich nach Heringsdorf zu fahren. Nach erledigter Zollrevision mit einigen Schwierigkeiten fuhren wir also bei Mondschein zu nächtlicher Stunde nach Heringsdorf und fanden hier zum Glük im Hotel einen wachenden Hausknecht, der uns einließ und ein Zimmer anwies. Dann haben wir in früher Morgenstunde herrlich gefrühstükt, sind Heringsdorf durchwandert, besuchten die Kinderstation mit 24 Kindern, die sich hier in Luft und Seebad erholen, und dann Nauens9, die hier eine schöne Villa besitzen. Von ihnen reichlich gestärkt fuhren wir wieder um 11 Uhr nach Swinemünde und von hier mit der Eisenbahn nach Berlin. Unser Willy empfing uns auf dem Bahnhof; er hat hier in angestrengter Arbeit ausgehalten. Rudel und Marie sind auch nach einigen Tagen glüklich heimgekehrt. So geht es nun in den Herbst und Winter hinein.

Clara und Klärchen senden Dir und Deinen Kindern herzliche Grüße.

Mit den besten Wünschen Dein Bruder Immanuel