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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 17. Oktober 1880

Lieber Karl!

Wenn ich beim Beginn dieses Briefes daran zurückdenke, daß ich Dir das letzte Mal am Schluß unserer Reise von Magdeburg geschrieben habe1, so bin ich überrascht von der Eile, mit welcher diese Reise vor Wochen verflogen, und von der weiten Ferne, in welche die Eindrücke der Reise zurükgetreten sind. Inzwischen war nun auch mein Geburtstag2, und ich habe Dir noch herzlich zu danken für die freundlichen und brüderlichen Wünsche, mit denen Du mich zu demselben begrüßt hast.3 In meinem letzten Lebensjahr habe ich viel Geduld und Gnade von Gott meinem Herrn erfahren; bei angestrengter Arbeit und manchem Kampf hat Er mir gnädig durchgeholfen, so daß ich das neue Jahr getrosten Muthes antreten durfte. Ob dieses Jahr so glüklich verlaufen wird, ist mir sehr zweifelhaft; die Atmosphäre ist schwül und kann zu heftigem Gewitter ausbrechen, wo die Sturmwinde den einzelnen Menschen wegzublasen drohen. Ich könnte dies fürchten, wenn ich dabei nur auf meine Kraft mich stützen sollte; ich glaube aber doch fest zu stehen in dem Vertrauen zu meinem Gott, daß Er mich schützen und auch davor bewahren werde, daß ich nicht Schaden nehme an meiner Seele.

Von Dir habe ich inzwischen durch die Zeitungen erfahren, daß Du an der Versammlung der historischen Kommission in München am Anfang dieses Monats Theil genommen hast.4 Ihr durftet Euch auch an dem stetigen Fortgang aller Eurer Unternehmungen erfreuen und ich habe auch mit Dank den 16ten Band Deiner Städtechroniken über Braunschweig5 empfangen. Außerdem habe ich Dir aber noch für andere Sendungen meinen Dank auszusprechen, erstens für die Biographie des Vaters von Erdmann, welche ich vorläufig in der Annahme zurükbehalten habe, daß Du sie auch schon in der Allgemeinen Deutschen Biographie besitzen würdest. Ich kann nicht sagen, daß die Arbeit von Erdmann6 mich im Inhalt und in der Darstellung ganz befriedigt hätte; er scheint mir in der allgemeinen Auffassung der Größe und Bedeutung des Mannes nicht gerecht geworden zu sein, wenn auch bei dem ganz anders gerichteten Zeitinteresse die Erkenntniß daran gegenwärtig sehr geschwächt ist. Zweitens hast Du uns durch Deinen interessanten Vortrag über Makarts Bild sehr erfreut7; er ist ebenso belehrend, wie unterhaltend durch seinen Humor.

In München wird Dir die Auflösung des Hausstandes Deiner Kinder eine empfindliche Lüke gewachsen sein. Doch hast Du Dich an Anna und ihren Kindern im eigenen Hause erfreuen können, und jetzt werden sie sich wohl bereits in Leipzig häuslich niedergelassen haben. Es wird dies für Anna manche Last und Schwierigkeit mit sich bringen; doch wird sie bei ihrer Elastizität des Geistes und Gemüths sich leichter, wie andere in der neuen Heimath einleben. Wir wissen nicht, ob die arme Anna Mangelsdorf dort noch verweilt und bleibt: ihre Mutter Tante Thekla wünschte sehr, daß sie nach München ziehn möchte. – Was Du von Deinen Töchtern im Hause mittheilst8, hat uns mit sorglicher Theilnahme bewegt; ich weiß es aus Erfahrung, wie schwer es ist als Wittwer9 dem Hause vorzustehen und die Kinder mit wachsamem Auge zu leiten. Die treue Liebe Deiner Marie, welche zu Dir spricht, wie Ruth zur Nämi Noemi: „wo du bleibst, da bleibe ich auch“10, wird Dir in Deinen Sorgen ein reicher Lohn sein.11

In meinem Hause befinden wir uns Alle ganz wohl; einem Jeden hat die Sommerfrische in seiner Weise gut gethan. Auch von Willy, der bis auf Weiteres noch in Paderborn bleibt, haben wir, Gott sei Dank, stets gute Nachrichten. Leider war es nicht ausführbar, daß wir uns im Sommer am Rhein begegneten. Er ist kürzlich nach einer Dienstreise im SauerlandArnsberg – noch nach Düsseldorf zum Besuch der Gewerbeausstellung, nach Köln, wo er den Dom bestiegen, und nach Bonn, wohin ihn Frau Snethlage und Frau Charlotte Broicher eingeladen, gereist. Weiter hat er sich nicht verstiegen, obwohl er unter anderem dringend nach Metz eingeladen war; er ist nicht reise- und unternehmungslustig. Die neue Verwaltungs-Organisation wird ihm wohl eine andere Stellung zuführen. Wir freuen uns, daß Adalbert wieder zum Reichstag gewählt ist, und wir ihn daher im Winter hier sehen werden. Die Waldenburger Kinder wollen Ende dieses Monats herkommen, da Rudel Abgeordneter des Landtags ist und er die Frau und Kinder für diese Zeit mit hernehmen will; wir suchen noch für sie eine passende Wohnung. Nachdem er sein Kommissarium in Oberschlesien beendigt hatte, machte er mit Marie zu seiner Erholung eine Reise nach Wien.

An dem Fest in Köln12 werdet Ihr gewiß auch warmen Antheil genommen haben; es ist ein wunderbares Glük, durch welches der alte Kaiser gesegnet ist, daß er nun auch die Vollendung dieses nationalen Werkes erleben durfte und daß die Feier so erhebend großartig ausgegangen ist. Er hat sie selbst lebhaft gewünscht und ohne sein Betreiben würde die ganze Feier schwerlich zu Stande gekommen sein. Gott möge ihn lange in Kraft noch uns erhalten!

Clara und Klärchen senden viele herzliche Grüße.

In treuer Liebe
Dein Bruder
Immanuel