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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 7. Februar 1879

Lieber Karl!

Aus Deinem lieben Brief vom 19ten vorigen Monats1 habe ich mit herzlicher Theilnahme ersehen, daß es Dir und Deinen Kindern im Ganzen wohl geht und Du auch wieder mehr geneigt bist, schon Deiner lebensfrohen Töchter wegen an der Geselligkeit Theil zu nehmen. Auch Deine verschiedenen Nachrichten aus dem Nürnberger Verwandtenkreise sind mir immer von Interesse, da ich hierdurch mit ihm in einigem Zusammenhange bleibe. Von Onkel Gottliebs Familie habe ich aber lange nichts gehört, und es würde mir sehr erwünscht sein, von Vetter August und Frau von Mellenthin auf der Feldmühle und von der armen Anna Mangelsdorf in Leipzig etwas Näheres zu erfahren.

Meine Waldenburger Kinder und Enkel sind noch hier, wollen aber nun am nächsten Mittwoch2 heimkehren. Rudel hatte sich wegen seines Ohrenleidens in die Behandlung eines hiesigen Spezial-Ohrenarztes Dr. Weber begeben; die Entzündung und Eiterung ist jetzt gehoben, jedoch eine lokale nervöse Reizbarkeit mit wechselnder Schwerhörigkeit und Ohrensausen zurükgeblieben, deren allmähliche Besserung und Heilung von der Zeit gehofft wird; der arme Patient, eine ungeduldige, selbstische Natur, leicht zum Schwarzsehen in der Zukunft geneigt, trägt sehr schwer in solcher Leidenszeit. Ich freue mich aber über Marie, welche sich dabei geduldig und verständig benimmt, ihren Mann treu pflegt und mit Geschick zu behandeln versteht, und sich nicht niederdrüken läßt. Sie ist dabei, Gott sei Dank, wohl und frisch. Auch die beiden Kinder sind fröhlich, munter und in blühendem Stande. Der Herr möge ihnen diese Freude ungetrübt erhalten! – Von Willy erhalten wir sehr vergnügliche Briefe aus Paderborn; dort ist trotz Kulturkampf und Bischof Martin ein fröhliches Völkchen, welches sich im Karneval3 herrlich amüsiert, nach Herzenslust spielt, trinkt und tanzt, und mein Willy hat dort den Philister der letzten Berliner Arbeitsjahre abgestreift; die Fastenzeit wird ihm dann auch wieder gut thun. Dazwischen war er auch in Münster, wo er einen großen Ball beim Oberpräsidenten mitgemacht hat.

In der nächsten Woche erwarten wir Schwager Adalbert zum Reichstag; es wird eine bewegte aufgeregte Sitzungsperiode geben, worin es gährt, brauset, siedet und zischt.4 Bismark wird es in der Hauptsache darauf ankommen, indirekte Steuern zur Dekung des Defizits der Reichskasse zu bekommen; worin die bestehen und wer sie zahlen soll, wird ihm schrecklich gleich sein, wenn auch seine persönlichen Wünsche und Ansichten in mancher Richtung nicht erfüllt werden. Es ist aber doch eine tumultuarische Wirthschaft, die Alles zerreibt und ein trauriges Schlachtfeld zurükläßt. Für die Zukunft, wenn der gewaltige dämonische Mann die Regierung nicht mehr mit seiner starken Hand zusammenhält, wird der Zustand gefährlich werden, sobald auch der ehrwürdige Kaiser nicht mehr die Krone tragen wird, da die Liebe und Ehrfurcht für ihn im ganzen Reiche Vertrauen zum Frieden erhält. Das wissen auch die Sozialdemokraten und warten auf sein Ende. Ich danke Gott, daß ich vermuthlich die kommenden schweren Zeiten nicht mehr erleben und durchmachen werde; dazu gehören jugendlichere Kräfte, denen es auch dadurch leichter gemacht wird, daß sie nicht mit den von uns in einem längeren Leben gemachten ernsten Erfahrungen belastet sind. Es müssen sich doch immer auch die falschen Ideen und Strömungen der Zeit bis zur Erschöpfung vollenden.

In acht Tagen, am Sonntag den 16ten dieses Monats werden wir das fünfzigjährige Amtsjubiläum des alten Büchsel feiern. Ich habe ihm versprochen, dafür zu sorgen, daß die Feier möglichst vereinfacht und von Festessen und Festgeschenken ganz abgesehen werde. Es wird aber doch eine große Theilnahme statt finden und es läßt sich der Dank und die Anerkennung eines so reich gesegneten und für unsere Kirche nicht bloß hier, sondern in weiten Kreisen höchst bedeutungsvollen Wirkens nicht abwehren.

Im nächsten März oder April wird wohl wieder die Kommission für die Monumenta Germaniae Historica hier zusammenkommen und Du wirst uns sobald der Termin feststeht, gewiß davon Nachricht geben, wann wir Dich hier erwarten können.

Von Clara und den Kindern die herzlichsten Grüße.

In treuer Liebe
Dein Bruder
Immanuel