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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 26. Mai 1871

Lieber Manuel!

Meine Hoffnung, Susanna zu Euch mitzubringen, ist leider zu Schanden geworden. Denn das Befinden unseres guten Vaters hat sich im Laufe dieser Woche immer mehr verschlimmert, so daß wir seiner baldigen Auflösung entgegensehen. Ich war am Mittwoch1 Nachmittag drüben und fand ihn in einem traurig verfallenem Zustand. Der Arzt, Professor Diez, erklärte zwar, daß derselbe noch eine Zeit lang fortdauern könne, doch sei auch ebenso möglich, daß das Ende plötzlich eintrete. Unter diesen Umständen kann ich zwar meinerseits noch den Plan festhalten, die Reise in der nächsten Woche zu unternehmen und mich auf acht Tage von hier zu entfernen, aber Susanna will bleiben, um der Mutter im Nothfall zur Seite zu stehen, da nur die eine Tochter Sophie in Nürnberg anwesend, die anderen aber schwerer zu erreichen sind. Ich selbst kann nicht anders als ihren Entschluß billigen; auch würde sie in der jetzigen Stimmung nur wenig Empfänglichkeit für andere Eindrücke besitzen. Ungern verzichtet sie auf die schöne Hoffnung des Wiedersehens und Zusammenseins mit Euch. Heute Nachmittag ist sie nach Nürnberg hinüber und wird sicher nicht beruhigter nach Hause kommen.

Meine Absicht ist am Dienstag2 früh von hier abzureisen, aber nur bis Leipzig zu gehen, wo ich bis zum folgenden Mittag bleiben will; ich würde dann Mittwoch Nachmittag gegen 5 Uhr oder ½5 Uhr in Berlin eintreffen.

Michelets Einladungsschreiben namens des Comité3 wird erst jetzt, gleichzeitig mit diesem Brief, von mir beantwortet; weil es zugleich in einer unpassenden Form mit an den hiesigen Senat gerichtet war, mußte ich es diesem mittheilen und warten, ob er etwas darauf erwiedern würde. Dies ist nun nicht geschehen.

Heute erhielt ich ferner das Einladungsschreiben des Universitätsrectors Bruns zur öffentlichen Feier in der Aula, welches mich besonders erfreut hat. Ich bin begierig, welcher Art und wie zahlreich die Versammlung dort sein wird. Michelets Rede zu hören, möchte Manchen nicht angenehm sein.

Unsere Anna wird heute in 8 Tagen nach Kreuznach zur Badekur abgehen. Wir haben dort und in der Nähe verschiedene Ansprachen für sie, so daß wir sie wohl allein reisen lassen können: auch weiß sie sich selbst zu helfen und zu benehmen.

Mit herzlicher Freude sehe ich nun unserem baldigen Wiedersehen entgegen, wenngleich ich innig bedaure dies Mal – und wer weiß, wann sich eine ähnliche Gelegenheit wieder findet? – meine Susanna zurücklassen zu müssen.

Dein Bruder Karl.