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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 28. November 1869

Lieber Manuel!

Ich denke mir, daß Du gegenwärtig durch die Provinzial Synode vollauf in Anspruch genommen bist, von deren Verhandlungen ich aus der Kreuzzeitung Kenntniß erhalte. Der Verlauf scheint zufrieden stellend zu sein, der Ton ist würdig, die Opposition vereinzelt, gefährliche Klippen, wo sie sich zeigen, werden lieber klug umgangen, als daß man sich die Köpfe daran zerstößt. Ich meine, damit wird das Kirchenregiment wohl auskommen können.

Deine Broschüre über die Gemeinde Wahlen und was damit zusammenhängt habe ich mit Interesse gelesen und daraus ersehen, um was es sich hierbei handelt. Bei uns hier nehmen alle ansässigen Gemeindeglieder an solchen Wahlen Theil und die Indifferenz sorgt dafür, daß sie nicht ganz schlecht ausfallen; freilich scheint das Institut der Kirchenvorstände selbst sehr todt zu sein und man erfährt sonst nichts von ihm außer wenn man den Wahlzettel ins Haus geschickt bekommt.

Von unseren politischen Wahlen1 wirst Du in den Zeitungen gelesen haben. Die Aufregung im ganzen Lande war groß genug; nur bei uns hier in Mittelfranken war sie diesmal geringer als im Mai2, weil das Resultat, nämlich der Sieg der Fortschrittspartei, hier zum voraus gesichert war. Bei uns heißt Fortschritt, was in Preußen nationalliberal, und bedeutet Anschluß an den norddeutschen Bund. Den Gegensatz bilden die Patrioten, die ihre Stärke in den Clericalen und in den Particularisten haben und denen sich auch die schwache Demokratische oder sog. Volkspartei anschließt. Da man die Wahl nur zwischen beiden hat, so bin ich natürlich Fortschrittsmann und habe sogar die Ehre gehabt als Vertrauensmann dieser Partei in einem Wahlausschuß zu sitzen wobei ich Gelegenheit hatte, die ganze Misére des allgemeinen Stimmrechts noch näher als sonst in Augenschein zu nehmen. Ich lege übrigens schon seit langem kein großes Gewicht mehr auf den Wahlmodus, über den man sich in Frankreich 1789 und bei uns 1848 so viel hin und hergestritten hat. Die herrschende Ansicht dringt so oder so durch. Bei uns hat das Ministerium geglaubt, mit einer neuen zum Vortheil der Liberalen Partei kürzlich berechneten Eintheilung der Wahldistricte viel ausrichten zu können, und das Ergebnis der neuen Wahlen war fast ganz das gleiche, wie bei den vorigen; ja die Parteien haben sogar noch eine Stimme mehr in der Abgeordnetenkammer gewonnen. Vermuthlich wird das Ministerium Hohenlohe dadurch vom König gehalten werden und bleiben, obwohl es so entschieden für die Liberalen Partei ergriffen hat und sich nun einer feindlichen Majorität in der Kammer gegenüber sieht; denn diese selbst mit ihren katholischen Priestern und von diesen geleitsüchtigen Bauern ist schwerlich regierungsfähig.

Wir leben hier in Erlangen, was die Universität und geselligen Umgang betrifft, wie sonst angenehm und friedlich. Einige neu berufene jüngere Collegen, Professor Ehlers mit Frau aus Göttingen, Zoolog, Kraus aus Würzburg, Botaniker, Schöne aus Leipzig, Philolog, Lommel der Physiker fügen sich gut in unsere Verhältnisse und bringen neue Anregungen für unsere Gesellschaft. Man bleibt auch an einer kleinen Universität im Connex mit dem ganzen Deutschland.

In voriger Woche wurde ich überrascht durch den Besuch eines englischen Philosophen, Dr. Collyns Simon, der mich als Sohn meines Vaters kennen lernen wollte und sich mit großer Verehrung für ihn und seine Philosophie aussprach. Ich war genöthigt, mich mit ihm in englischer Sprache zu unterhalten, und fand mich bald zu ihm hingezogen: ein Mann in den Fünfzigern mit leuchtendem Auge und mächtigem grauen Bart und nachdenklichem Ernst in den Zügen. Er hatte, schon seit länger Wittwer, seine einzige erwachsene Tochter bei sich, eine schlanke hohe Gestalt, voll Grazie und natürlicher Lebendigkeit; sie sprach ganz gut deutsch und gefiel meiner Frau und Töchtern ganz ausnehmend wohl. Sie waren während der drei Tage ihres hiesigen Aufenthalts jeden Abend mit uns, und als sie uns verließen, bedauerten wir ihr Scheiden wie das von alten Freunden. Sie sind nach Dresden gegangen und haben versprochen uns noch einmal auf der Durchreise nach Constantinopel zu besuchen.3

Die Unterhaltung mit dem englischen Philosophen, der sich auch als Schriftsteller bekannt gemacht hat, führte mir das Lebensbild unseres Vaters lebhaft vor Augen. Auf ihn bezieht sich auch der anliegende Brief von Rosenkranz4, den ich vorgestern erhielt. Ich theile Dir ihn mit, um Deine Meinung darüber zu hören. Gegen das Project an sich hätte ich nichts einzuwenden; doch nehme ich Anstoß an dem Zusatz: zum besten des Denkmals, weil es mir nicht passend scheinen will, daß gewissermaßen unser Vater selbst zu seinem Denkmal Beiträge herbeischaffen soll und weil wir seinen Namen selbst damit bloßstellen, wenn aus dem Denkmal, wie ich erwarte, nichts wird. Leider weiß ich nichts von Professor Märker, außer daß er mit Michelet geht und die Denkmalsangelegenheit betreibt – ich weiß nicht ob man ihm vertrauen darf, daß er die Herausgabe der Briefe mit richtigem Takt und Geschmack besorgen wird. Ich bitte Dich mir über das Project Deine Meinung recht bald mitzutheilen, damit ich Rosenkranz antworten kann.

Familiennachrichten werden Euch die Meinigen mittheilen. Im Hause geht es gut. Nur Anna war in der letzten Woche, weil sie sich auf einem Ball in der Harmonie erkältet hat, heiser. Unser Kleinster, der freundliche blonde Lockenkopf, Gottlieb ist in voriger Woche zwei Jahre alt geworden.5 Von Mariechen aus Friedrichsdorf haben wir gute Nachricht. Luise ist hübsch herangewachsen und wird als erwachsenes Mädchen mit eingeladen. Georg ist ein Schafskopf, Sophiechen sehr aufgeweckt und talentvoll, Mundel brav und munter, wenn er nicht gerade heult!

Deinen Willi will ich mit Anzeigen an Thöl empfehlen, wenn er es wünscht und braucht. Henle ist verdrießlich und verstimmt, daß Göttingen nun preußische Universität geworden ist6, doch sind Töchter im Hause, mit denen Willi sich vielleicht besser unterhält: hast Du ihn dort empfohlen?

Leb wohl! Ich grüße Clara und Eure Kinder –

Dein Bruder Karl.

P. S. zum Schluß: Um Rosenkranz nicht bloß in negativer Weise zu bescheiden, schlage ich vor, ihm die Herausgabe der Briefe und das Honorar zu überlassen, oder falls er nicht dazu im Stande wäre, würde ich lieber selbst die Herausgabe besorgen und das Honorar für das Denkmal zurücklegen, falls dieses zu Stande kommt. Noch fällt mir ein, daß in den Briefen Schellings an unseren Vater gerade der letzte auf die Phänomenologie7 bezügliche im Original fehlt, und nur in der Abschrift unserer lieben Mutter vorhanden ist.8 Plitt fragte mich danach. Sollte er vielleicht bei Dir liegen geblieben sein, an anderer Stelle als die übrigen Schelling’schen Briefe?