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Karl Hegel an Immanuel Hegel, Erlangen, 26. Februar 1871

Lieber Manuel!

Der heutige Tag1 wird ein weltgeschichtliches Datum sein, wenn, wie die Welt in Spannung erwartet, in diesem Moment der ersehnte Friede geboren wird. Dann wird schon morgen ein unendlicher Jubel in ganz Deutschland erschallen und alle deutschen Herzen eine stolze Befriedigung erfüllen, wie unsere Nation in ihrer ganzen Vergangenheit sie niemals erlebt hat. Kaum vermag der Gedanke die Größe unseres Triumphs zu erfassen und mit zitternder Freude das nie geahnte Glück zu ergreifen. Mögen wir uns dessen auch in Zukunft würdig beweisen und uns nicht in thörichtem Hochmuth überheben, damit wir nicht fallen! Gott der Herr sei gepriesen, der so großes an uns gethan hat!

Gott sei gelobt auch dafür, daß Dein tapferer Willi aus naher Todesgefahr glücklich errettet und uns erhalten geblieben ist! Du hast um seinetwillen eine lange und schwere Sorge getragen und wirst eine selige Erleichterung empfunden haben, als Du ihn endlich wieder hattest, ihn wieder sahest wie ein Geschenk des Himmels! Auch wir haben dies lebhaft mit Euch empfunden und danken der lieben Marie, daß sie uns gleich Nachricht davon gegeben hat. Auch von unseren anderen Lieben vermissen wir keinen: meine lieben Schwäger Friedrich und Ulrich, der erste als Lieutenant, der zweite als Hauptmann, werden an dem glorreichen Einzug in Paris Theil nehmen.

Dagegen ist uns jetzt, seit kurzem, eine andere Sorge nahe getreten, die um unseren lieben Vater in Nürnberg, der an einem Leberleiden2 schwer erkrankt ist. Schon einige Mal im vorigen Sommer und in diesem Winter litt er vorübergehend an Kurzathmigkeit und nun ist als eigentliche Ursache die Vergrößerung jenes Organs hervorgetreten und sind andere Beschwerden, namentlich Anschwellung der Füße und Schlaflosigkeit, hinzugekommen. Der liebe Kranke, welcher früher wohl eine gewisse Gereiztheit zeigte, die man allein der ziemlichen Sorge für seinen einzigen wackeren Sohn zuschrieb, erträgt jetzt seine Leiden in schöner Geduld und beweist sich, wenn nicht durch momentane Schmerzen gehindert, theilnehmend und eingehend auf Alles in der Unterhaltung. Der Arzt, Professor Diez, erklärte den Fall, bei dem Alter von 77 Jahren, gleich anfangs nicht für unbedenklich, und je länger er dauert, um so mehr wächst die Gefahr. Ich erwarte neue Nachricht durch meine Frau, welche heute (Sonntag) nach Nürnberg hinüber gefahren ist. Ich denke mit Angst und Schrecken daran, wie viel die liebe Mutter und wir mit allen Kindern und Enkeln an dem theuren Vater verlieren würden!

Abgesehen davon, was uns vielleicht von dieser Seite her bevorsteht, dachte ich wohl daran in den kommenden Osterferien das große Friedensfest mit Euch, Ihr Lieben, in Berlin zu feiern, doppelt dazu aufgefordert, wenn etwa die Enthüllung des Denkmals unseres Vaters sich zugleich an jenes anschließen würde. Und es bedürfte übrigens gar keiner derartigen Veranlassung für mich, nur allein dem Drang meines Herzens zu folgen, Dich und die Deinigen nach so langer Zeit einmal wieder zu sehen. Nicht bloß über das Allgemeine und manches Persönliche wünschte ich mich mit Dir zu besprechen, sondern insbesondere auch über mein Vorhaben, die Briefe unseres Vaters und, wenigstens zum Theil, auch die an ihn gerichteten herauszugeben. Ich habe kürzlich den ganzen brieflichen Nachlaß, den Du mir zuschicktest, durchgesehen und ein chronologisches Verzeichniß davon angelegt. Es war anfangs nur mein Gedanke, die noch ungedruckten Briefe an Schelling und Windischmann, die sich im Schelling’schen Nachlaß gefunden haben, nebst anderem Ungedrucktem zu veröffentlichen. Allein letzteres zeigte sich als unbrauchbar und jene Briefe für sich allein als weder an Zahl noch Bedeutung genügend. Rosenkranz‘ Absicht ging im Gegentheil dahin, den gesammten Briefwechsel abdrucken zu lassen, zu welchem Ende er auch schon einen Theil der Briefe (von anderen an Hegel) gar sauber hatte abschreiben lassen. Es ist für ein wahres Glück zu erachten, daß ich durch mein Dazwischentreten dies noch verhindert hatte. Doch bin ich jetzt geneigt mir die Idee von Rosenkranz so weit anzueignen, daß ich meine ausgewählte Sammlung der Hegelschen Briefe, aus der Biographie, den Vermischten Schriften (Werke Bd. 17)3 nebst den ungedruckten, veranstalten und aus den Briefen Anderer eine geringe Anzahl, und zwar besonders solche, welche zur Beantwortung Veranlassung gegeben und an sich werthvoll sind, sowie die sämmtlichen von Cousin hinzuzunehmen. Ferner denke ich, falls der Band nicht zu stark wird, auch die Gymnasialreden wieder abdrucken zu lassen. – So weit ich die gedruckten Briefe mit den Originalen verglichen habe, finde ich daß der Abdruck Manches zu wünschen und zu verbessern übrig gelassen hat; umso mehr scheint es nöthig überall diese Vergleichung vorzunehmen. Dazu brauche ich noch die Briefe, besonders die Reisebriefe, an unsere liebe Mutter. Hast Du sie nicht nach dem Tode der seligen Mutter gefunden und aufbewahrt? Ich würde bitten, sie mir zu schicken, oder hat sie unsere liebe Mutter vernichtet? – Ich hätte noch Manches zu schreiben; einstweilen will ich nur danken für die Geldsendung und letzte Abrechnung, so wie für Deine Abhandlung über die rechtliche Stellung der evangelischen Kirche in Preußen4, welche ich auch an Collegen von Scheurl  mitgetheilt habe. Sehr interessirt haben mich auch die Verhandlungen über die hessische Kirchenfrage und erfreut war ich über die Verwerfung der Mühler’schen Gesetzmacherei. Dieser Unglückliche hat es durch seine Ungeschicklichkeit, auch da wo er in der Sache Recht hat, wie gegenüber der Kunstakademie, mit aller Welt verdorben und es wird endlich Zeit, daß er abginge. Grüße die Deinigen, besonders den guten Willi, dem ich von Herzen Glück wünsche zu seiner Genesung.

Treulich Dein Bruder Karl.