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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Wildbad, 10. August 1875

Lieber Karl!

Nachdem wir gestern unsere Wohnung bei Wittwe Aberle an der Trinkhalle bezogen und uns darin gemüthlich eingerichtet haben, will ich Dir nun auch von unseren Erlebnissen und Erfahrungen, seitdem wir in Nürnberg Abschied genommen, Nachricht geben. Wir fuhren am Mittwoch1 Nachmittag bei angemessenem Reisewetter bis Nördlingen und übernachteten hier recht gut in der Krone. Obwohl es schon zu dunkeln anfing, besuchten wir noch die Hauptkirche und erfreuten uns an diesem mächtigen gothischen Bauwerk, mit drei fast gleichen Schiffen, deren Gewölbe von einer Doppelreihe der elf schlanken runden Säulen getragen wird. Bei dem trüben Wetter in der Dämmerung konnten wir das schöne Altarbild von Hans Schäufellin nicht mehr im Einzelnen genügend erkennen, doch gewannen wir doch den Eindruck eines in Zeichnung, Kolorit und Ausdruck ausgezeichneten und wohl erhaltenen Meisterwerks der oberdeutschen Schule. – Am Donnerstag2 fuhren wir schon vor 6 Uhr Morgens weiter; es regnete den ganzen Tag ununterbrochen, oft in Strömen und wir konnten von dem gesegneten Schwabenland, welches wir durchreisten, nur trübe Bilder empfangen. Nach kurzer Rast in Stuttgardt, machten wir in Ludwigsburg eine Pause; Frau 3 Hoffmann empfing uns bei strömendem Regen auf dem Bahnhof und geleitete uns zuerst zur Frau Generalin von 4, geb. Lili von 5, die wir, da der General6  abwesend war, nur kurz begrüßten. Wir fuhren dann zu der außerhalb der Stadt zwischen grünen Gärten liegenden bescheidenden Wohnung der Frau Hoffmann. Sie war sehr bewegt und die wenigen Stunden verliefen rasch in lebendiger Unterhaltung. Nach einem guten Mittag brachen wir nach 2 Uhr wieder auf, und nach längeren Pausen in Bietigheim, Mühlacker und Pforzheim, die auf den Bahnhöfen zugebracht werden mußten, kamen wir um 8 Uhr Abends in Wildbad an und fanden in Hotel Keim, einem Gasthof zweiter Klasse eine ganz befriedigende Aufnahme.

Von Wildbad hatten wir verschiedene Schilderungen vernommen; die einen bezeichneten die Lage als romantisch eng von Waldgebirgen eingeschlossen, die anderen als freundlich mit ausgedehnten grünen Thälern des Schwarzwalds; das Enzthal vereinigt Beides; bei Wildbad ist es aber lieblich in breiter Ausdehnung und daher zum längeren Aufenthalt sehr angemessen. Am Freitag Nachmittag besuchte ich den Badearzt Hofrath von Burckhardt, ein stattlicher kluger Mann, der sich einfach zur Sache findet und keinen langen Hokuspokus machte. Morgens trinke ich mit Clara 2 halbe Gläser Molken und um 11 Uhr bade ich im Gesellschaftsbade 10–15 Minuten bei einer Temperatur des Wassers von circa 27 Grad. Die Badeeinrichtungen sind sehr stattlich und wohlgeordnet, das Bad kostet in Gesellschaft nur 1 Mark, und in der Einzelnzahlung 1,80 Mark. Das Gesellschaftsbad macht einen komisch-gespensterhaften Eindruck; es liegen hier im weiten flachen Bassin mit einem Kiesgrunde an 12 Personen lang gestreckt regungslos mit weißen Leinen geschürzt im Wasser, aus dem die verschiedenen Charakterköpfe mit und ohne Bart hervorragen. Die Empfindung im Bade ist angenehm; eine lustige Zugabe aber ist die unbedingte Verpflichtung, hernach zu Hause ganz unbekleidet sich ins Bette zu legen und hier ohne zu schlafen und ohne zu lesen eine volle Stunde zuzubringen. Dieser Aufenthalt im Bette ist bei milder Transpiration ganz mollig, aber langweilig, und doch nur zu ertragen, wenn man, wie ich so glüklich bin, seine Frau bei sich hat, die durch Unterhaltung und Vorlesen dafür sorgt, daß man nicht einschläft. Diese Umstände machen es mir sehr zweifelhaft, ob ich Dir, lieber Karl, bei Deiner bekanntlich etwas ungeduldigen Natur diese Art Badekur empfehlen kann; doch wirst Du dies am besten selbst beurtheilen, und in Erwägung ziehen, ob Du nicht die liebe Susanna mitbringen könntest, die Dich in Badezucht halten würde, wie mich meine Clara. Das Bad scheint nach vielen Beispielen sehr wirksam zu sein; am meisten gegen rheumatische und gichtische Beschwerden, für welche es spezifisch ist, und dann auch für Nervenstärkung; da ich leicht rheumatisch angefochten bin, hoffe ich auf besonders in dieser Hinsicht gute Wirkung. Ich werde im Ganzen 20 Bäder aushalten, und daher nicht viel länger als 3 Wochen hier zubringen. Nach einem kurzen Einfall in den Schwarzwald oder die Schweiz denke ich also in den ersten Tagen des Septembers nach Simmelsdorf zu dem lieben Onkel Gottlieb zu kommen. Wenn er zu Eurer Hochzeit7 kommt, so grüße ihn herzlich und sage ihm, daß wir unsere Ankunft in Simmeldorf seiner Zeit vorher melden werden.

Die Badegesellschaft besteht hier wahrscheinlich aus Schwaben und Engländern; Norddeutsche finden sich wenig und bekannte Berliner habe ich nicht ermittelt. Zunächst sind wir bekannt geworden mit Prälat Dr. Grimmeisen aus Stuttgardt, einem sehr gebildeten und liebenswürdigen alten Herrn und dem Holsteiner General-Superintendenten Jansen aus Kiel; ferner einem Preußischen Oberst-Lieutenant Bergin mit Familie. – Die Verpflegung ist kostspielig, aber gut; das Mittagessen kostet 1Taler à Person. Die Wohnung bei Frau Aberle, eine freundliche Stube mit 2 Betten in guter Lage, wöchentlich 12 fl. Gulden

Wir werden uns jedenfalls sehr freuen, wenn Du zu uns kommen wirst; doch kann ich keine Verantwortlichkeit übernehmen, ob es Dir hier behagen möchte. Du kannst es Dir ja aber zunächst ansehen. Ebenso wird es uns eine große Freude sein, wenn das junge Ehepaar uns besuchen möchte.

Clara wird selbst noch schreiben. Also brauche ich nur für mich zu grüßen und meinen herzlichen Dank für die schönen gemüthlichen Tage, die wir bei Euch verlebt, auszusprechen.8

Meinen Stock, mit I. H.9 gezeichnet, habe ich in der Eile und da wir im Wagen zurückfuhren, auf dem Glockenhof bei Grundherrs stehen lassen; ich wünsche, daß er dort aufbewahrt werde, bis ich ihn mir selbst wieder abhole.

Zum Schlusse wünsche ich gutes Wetter und sonstiges Glück zum Hochzeitsfest.

In treuer Liebe Dein Bruder Immanuel