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Immanuel Hegel an Karl Hegel, Berlin, 5. Mai 1887

Lieber Karl!

Seit Deiner Abreise sind bereits über vier Wochen verflossen.1 Wir haben in dieser Zeit mit der Aufräumung des Nachlasses von Theodor viel zu thun gehabt und mußten deshalb öfters nach Potsdam fahren. Die Bezahlung der Rechnungen, Erfüllung sonstiger Verbindlichkeiten, eine Aufnahme des gesamten Inventariums, die Vertheilung der noch nutzbaren Sachen u. s. w. mußten bedacht werden. Da die beiden Geschwister Clara und Adalbert durch Testament als Universalerben eingesetzt und ich zum Testaments-Exekutor ernannt worden, so hat sich Alles in freundlicher Verständigung abgewickelt. Das finanzielle Ergebniß macht dabei auch keine Sorgen; wenn auch die Ausgaben die baaren Einnahmen mit 5.200 MM Mark übersteigen2, so können doch beide Erben Manche Sachen noch nützlich gebrauchen; im Uebrigen ist Vieles verschenkt worden und die Wohnung, die noch bis zum 1. Oktober bezahlt werden muß, ist jetzt leer; es heißt daher auch hier: Und seine Stätte kennet ihn nicht mehr!3 Der Verstorbene hat sich aber durch seine reiche Begabung und herzliche Liebe bei den Verwandten und Freunden, von denen er auch in Potsdam mit Vielen in regem Verkehr gestanden hat, ein dankbares Andenken gestiftet.

Dein Bericht von Deinem Besuch bei Willy war uns sehr interessant; wir haben seitdem nicht viel von ihm gehört; er hatte beim Reichstag einen längeren Urlaub genommen4, weil er das Militär-Ersatzgeschäft in seinem Kreise vornehmen mußte; es bringt ihn dies mit alten Kameraden in die nächste Berührung und greift tief in die Privatverhältnisse ein. Wir erwarten ihn wieder morgen zum Reichstag, und er wird jetzt wohl länger hier bleiben müssen.

Eine wichtige Angelegenheit, welche am vornehmsten mich, aber die übrigen Gemüther der Familie lebhaft beschäftigte, ist in diesen Tagen zur Entscheidung gekommen. Wir werden in diesem Sommer gemeinschaftlich mit der Bitterschen großen und kleinen Familie unsere Erholung in Schreiberhau im schlesischen Gebirge zwischen Warmbrunn und Josephinenhütte suchen. Rudel war dort und hat sich die Oertlichkeiten und Quartiere angesehen und es ist nun für die Sommermonate Juli und August eine Villa gemiethet worden, die uns Alle beherbergen soll. Marie führt mit der eigenen Köchin die Wirthschaft und besorgt gegen angemessene Vergüthung unsere volle Verpflegung; wir werden auch zu unserer Bedienung unser Hausmädchen mitnehmen. Dieses Arrangement empfiehlt sich im Vergleich mit einem Schweizer Aufenthalt erstens durch die gemüthliche Seite und zweitens durch die Ersparung der weiten Reise, während wir von hier nach Schreiberhau in einem Tage, also ohne Nachtquartier ankommen. Wir wollen wünschen und hoffen, daß wir Alle wohl bleiben und uns kein Kriegsgeschrei5 nach Hause ruft, wie es damals im Jahre 1870 zu unserer großen Ueberraschung geschah.

In der vorigen Woche fand hier die große kirchliche Versammlung statt; sie war sehr ansehnlich und zahlreich von Geistlichen und Laien aus allen Provinzen der Landeskirche besucht; ihr Verlauf war würdig, ein bedeutsamer Ausdruck der Bewegung, welche unsere Kirche ergriffen hat. Zunächst wird sie keinen sonderlichen praktischen Erfolg haben. Die Organe des Kirchenregiments, welche ihn zu vertreten hätten, sind zu schwach gegenüber der Macht des Staates, und ich würde auch in ihrer jetzigen Beschaffenheit Bedenken tragen, ihnen die erstrebte Selbständigkeit anzuvertrauen. Man kann nicht eine Verfassung der Kirche, ebenso wenig des Staates aus dem Aermel schütten; dies kann nur durch langjährige Arbeit mit der Kraft des Geistes erworben werden. Daher halte ich auch den Gesetz-Entwurf für einen Idealismus, der mit abstrakten Grundsätzen nichts vermögen wird. Aber es wird unzweifelhaft in Folge der mächtigen Uebergriffe der katholischen Kirche eine Zeit der Reaktion zu Gunsten der evangelischen eintreten und jedenfalls wird der Staat sich genöthigt sehen, die letztere mit reicheren Mitteln auszustatten, und ihre Bedürftigkeit ist ein großes Hinderniß in ihrer Entwicklung. Die evangelische Kirche wird nur lebendiger werden durch den Kampf mit der katholischen Kirche und wenn die Franziskaner und Kapuziner ihr auf den Leib rücken, wird sie auch sich der Kraft des Evangeliums bewußt werden. Die Aufklärung und der Liberalismus haben dagegen keine, oder doch nur stumpfe Waffen, und können ohne des Schutz des Staats nichts ausrichten. Der bevorstehende Kampf der Evangelischen Kirche, um sich in ihrer Existenz gegen die katholische zu erhalten, wird ihr daher in tieferer Weise zum Segen gereichen. Der unglückliche liberale Kulturkampf, der ohne Kenntniß und Würdigung der katholischen Kirche im Uebermuth unternommen wurde, hat diese unvermeidlichen Früchte getragen; er mußte nothwendig mit der Niederlage der Staatsgewalt endigen, und es ist der großen diplomatischen Geschicklichkeit Bismarks zu verdanken, daß mit Hülfe des Papstes Leo jetzt ein leidlicher Abschluß erreicht ist.6 Die Voraussicht einer bedrohlichen Zukunft des Vaterlands im Verhältniß zu den aeußeren Feinden hat Bismark das dringende Bedürfniß erkennen lassen, wenigstens im Innern einen leidlichen Frieden herzustellen. Gott erhalte uns den Frieden; so lange der greiße Kaißer lebt, dürfen wir dies erhoffen.

Mit herzlichen Grüßen von Clara und Klärchen

Dein Bruder Immanuel.