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Karl Hegel an Susanna Maria Hegel, geb. Tucher, Straßburg, 12. April 1867

Liebes Suschen! Dein letzter lieber rosenfarbener Brief1 hat mir trotzdem schwere Sorgen gemacht; denn er brachte mir eine Gewißheit, an die ich bis dahin immer noch nicht glauben konnte, eine Gewißheit, die dennoch so voll Ungewißheit ist, nicht wie alle Zukunft überhaupt ungewiß ist, dunkle und heitere Loose in sich schließt, sondern als ein auf die Zukunft schon gezogenes Loos, dessen Gewinn oder Verlust man nicht abschätzen kann, aber jedenfalls hinnehmen muß. Nehmen wir es auf Hoffnung an, aus der Hand Gottes, von dem es kommt, liebes Suschen, und laß uns nicht durch trübe Sorge unser Glück verkümmern und den freudigen Aufschwung des Geistes lähmen!

Herzlich leid ist es mir, daß Dein Unwohlsein immer noch nicht gehoben ist, der leidige Rothlauf sich wieder eingestellt hat. Ich begreife, daß Du auch das jetzt schwerer nimmst. So wäre Luischen beinahe auch um die Freude ihres Geburtstages gekommen, doch schließlich wurde es auch damit besser, als man gedacht! Mit den Kindern geht es und steht es also wieder gut, die Kleinen sind wieder fröhlich und Rosel kann sich wieder auf schwachen Füßen rühren. Denken wir nicht zu viel daran, wie es weiter gehen wird: wir vermögen doch nichts dazu. Alles was wir thun können ist uns vorzubereiten auf das was kommen wird oder kommen kann, um gefaßt das Nöthige zu thun oder in das nicht mehr Abzuwendende sich zu ergeben. So ist es auch mit dem schmerzlichen Ereigniß, welches für unsere Lieben in Nürnberg und uns bevorsteht. Den guten Großvater, der immer noch ein Mittelpunkt des gesammten Familienlebens dort war, werden wir Alle schwer vermissen, wenn er nicht mehr ist. Ein langsames schmerzenvolles Hinsiechen möchte man ihm aber doch lieber erspart sehen. Ich beklage es mit Dir, daß Du jetzt der Aufforderung der lieben Mutter nicht folgen kannst. Du mußt Dich in aller Weise schonen. Wenn es nicht besser mit Deinem Befinden und dem Wetter wird, so wirst Du leider auch auf den Besuch und Aufenthalt in Nürnberg zu Ostern2 zu verzichten haben. Wie sehr möchte ich Dir sonst diese Erfrischung wünschen! Dir und den Kindern! Doch erzwingen gegen verständigen Rath darf man es nicht. Mit dem Wetter hat es übrigens, wenigstens hier, seit heute eine bessere Wendung genommen. Der heutige Tag war schön, ein frischer Frühlingstag nach kaltem Merzen3, an dem ich wie sonst einheizte. Denn auch meine übrige Tagesordnung bleibt bei gutem oder schlechtem Wetter unverrückt dieselbe, Vormittags Archiv, Mittagessen im Rindsfuß mit Weizsäcker und Kerler, Caffe und Zeitungen im Casino, Nachmittags in der Bibliothek, dann Spaziergang, zwei oder eine Stunde zu Hause und Abendimbiß im Bierhaus wieder mit Weizsäcker und Kerler.

Doch habe ich in dieser Woche einmal die Blumenausstellung besucht und auf mein Eintrittsbillet in der Lotterie zwei Blumenstöcke gewonnen, die ich Frau Reuß verehrte; sodann hatte ich an einem Abend den Genuß eines brillanten Concerts im Theater, in welchem die berühmte Viardot-Garcia sang: das Orchester spielte sehr gut zusammen und gab eine Symphonie von Beethoven, die Ouvertüre vom Tannhäuser und Anderes; die Viardot zeigte sich als glänzende Coloratursängerin, die mich nicht eben entzückte; ich habe viele schönere Stimmen und ergreifenderen Gesang gehört, denn dieser ließ völlig kalt und erhob sich nicht über die Sphäre der bloßen eingeübten Kunststücke. Den Abend drauf hörte ich einen Jesuiten in der Capelle dieses Ordens predigen; in der Fastenzeit wird dort fast alle Abende gepredigt und es kommen viele Leute hin, aber bloß Männer; ich weiß nicht ob für die Frauen auch besonders gepredigt wird. Der Redner hatte sich den Charakter des Judas zum Thema gewählt; er sprach mit großer Gewandtheit wie in lebendiger Conversation, erhob sich aber nicht über die allergewöhnlichste Moral, die lax genug war, um das Publicum nicht vor ihren Ansprüchen zu erschrecken.

Von der Politik nahm ich Kenntniß aus den Zeitungen, so weit man sie hier lesen darf, denn die Cölnische und Allgemeine Zeitung nach der ich im Casino zuerst suche, ist in der letzten Woche meist confisciert worden, damit die Franzosen nur ihre eigenen Blätter zu lesen bekommen, wiewohl sie deutsche Zeitungen auch sonst nicht viel lesen. Am lezten Sonntag4 wurde überall lebhaft über die Aussicht auf den Krieg debattirt, da von Paris her sehr aufregende falsche Gerüchte verbreitet worden und die Curse5 um 2 Procent an einem Tag gefallen waren. Seitdem wird weniger davon gesprochen und daß die Stimmung eine kriegerische sei, ist am weitesten von der Wahrheit entfernt. Man ergiebt sich in das Schicksal, daß alles Wohl und Wehe nur von einem einzigen Willen abhängt!

Ich erwarte mit Verlangen weitere Nachricht von Dir. Leider kann ich meine Rückkehr zu Ostern nicht versprechen; ich bin mit meiner bisherigen Ausbeute noch wenig zufrieden gestellt, und da ich einmal hier bin, die Kosten der Reise und die Unbequemlichkeiten der Entfernung vom Hause und die Entbehrung des Zusammenseins mit der Familie überwunden sind, so wünsche ich zum Ersatz für Alles wenigstens den hiesigen Aufenthalt so viel wie möglich auszunutzen und künftige Besuche am Ort dadurch wenn nicht unnütz zu machen, doch schon jetzt durch Vorwegnahme zu verkürzen.

Sei tausend Mal gegrüßt mit den lieben Kindern liebes Suschen und denke an

 Deinen Liebsten.

P. S. Ist Stintzig wieder zurück?

wie steht es mit Delitzsch Gehen oder Bleiben?