Straßburg 6 April 1867
früh
Liebes Suschen!
Deinen lieben Brief vom Dienstag hatte ich schon am Mittwoch Abend. Er war leider nicht durchaus erfreulichen Inhalts: die Kinder ziepsen immer noch und Du selbst hast noch einmal eine Anwandlung dieses sonderbaren Rothlaufs gehabt, der im Blute liegen muß. Der Garten ist bestellt, aber bei dem jetzigen Wetter wächst nichts! Dann die Berufung an Delitzsch! Ich habe noch die Rosel vergessen, die auch zu Bette lag! Ich bedauere Dich, Du ärmste kleine Frau! Aber ich könnte Dir freilich auch nicht weiter helfen, wenn ich bei Dir wäre. Man muß eben zufrieden sein daß es nichts Schlimmeres ist und denken, daß es vorübergeht. Luischen hat unter diesen Umständen auch wohl keinen rechten Geburtstag gehabt, ich meine was die Kinder dafür ansehen; ich lasse ihr noch viel Glück dazu wünschen und ermahne sie ein gutes und liebes Mädchen zu sein, freundlich und geduldig gegen Jedermann und nicht immer Recht behalten zu wollen. Von Annchen wird seitdem wohl schon längst ein Brief gekommen sein. Das Urtheil von der Frau Köppe ist der einzige Sonnenblick in Deinem Aprilbrief.
Auch wir haben hier einen kalten regnerischen April. | Die Vegetation ist seit acht Tagen stehen geblieben; man muß Morgens und Abends heizen, wenn man nicht frieren will; meine Kleidung ist nicht warm genug, doch bin ich bis jetzt noch ohne eigentliche Erkältung durch gekommen. Es würde mir sehr schlecht gefallen, wenn ich nicht zu arbeiten genug hätte, und außer der Arbeitszeit, die in Archiv und Bibliothek nur zwischen 9 – 12 Vormittag und 2 – 5 Nachmittag liegt, auch Unterhaltung in der Gesellschaft meiner deutschen Freunde fände, des Mittags regelmäßig im ‚Rindsfuß‘ beim Essen und des Abends in einem Bier- oder Caffehaus, wohin wir uns bestellen. Außerdem besuche ich das Casino, worin ein sehr schönes großes und reich ausgestattetes Leselocal ist, und bin noch einige Stunden zu Haus, da ich auch hier mit Arbeit oder Lecture versehen bin.
Bei den Straßburger Freunden habe ich dieselbe liebenswürdige Gastfreundschaft gefunden, wie im Herbst. Am Dienstag Abend waren wir zu einem opulenten Mahl bei Reuß eingeladen, am Mittwoch deßgleichen bei Kunitz. Die Familie Reuß fand ich vervollständigt durch die Tochter, die im Herbst nicht anwesend war: sie ist wenig ansprechend und unansehnlich, und halb Französin; das letztere gilt wohl auch von der Mutter, diese ist aber doch derber und natürlicher | mit überwiegend deutscher Art. Bei Kunitz waren noch zwei theologische Collegen außer Reuß, nämlich Prof. Baum mit Frau und Brug
Decan der Facultät, die ich nun auch besuchen muß, was wiederum Einladungen zur Folge haben wird.
Am vergangenen Sonntag Nachmittag machten wir einen Spaziergang über die Rheinbrücke nach Kehl, nämlich ich mit Weizsäcker und
Lexer und Brucker, dem Archivar, der uns zum Mittagessen bei sich hatte. Der Rhein strömt mächtig mit weißgrünlichem Gewässer zwischen den Brückenschiffen durch, über welche man geht und mit Gespann fährt, denn die stolze Eisenbrücke daneben dient nur für die Eisenbahn. In Kehl fanden wir noch mehr Gesellschaft von Straßburgern, die mit Weizsäcker schon bekannt waren. Er weiß mit ihnen leicht zu verkehren und versteht es besser als ich, zu kneipen.
Montag Abend traf auch Kerler hier ein, so daß wir unser vier Deutsche das Archiv belagerten; dagegen wird Lexer nach Vollendung seiner Hauptarbeit (Vergleichung einer Abschrift mit dem Original der Chronik) uns heute verlassen; er sehnt sich sehr nach Hause.
In der Politik finde ich hier die Stimmung seit vergangenem Herbst sehr verändert. Damals war man aufgebracht und gereizt über Preußens Erfolge; jetzt ist Alles von der Furcht vor Preußen beseelth, man meint, Preußen | werde den Elsaß wieder haben wollen und den Krieg gegen Frankreich beginnen. Ich wurde ganz ernsthaft gefragt, ob nicht anzunehmen sei, daß die Preußen den Münster und um seinetwillen auch Straßburg mit dem Bombardement verschonen würden! Das Übergewicht Frankreichs sei an Preußen übergegangen, sagte ein französischer Offizier zum andern; Bismark war das dritte Wort. In den französischen Zeitungen beginnen mit Preußen und Deutschland die Leitartikel. Wahrlich es überkommt einen ein Gefühl des Nationalstolzes, wenn man auch nur anhangsweise zu dem Staate gehört, dem allein die Ehre gebührt, Deutschland nach außen zu vertreten!
Ich grüße das ganze Haus Dich, die Kinder und Leute. Die Prüfungen der Schulen werden jetzt wohl stattfinden. Wie geht es Sophiechen und
Mundel? – ich grüße die beiden lieben Kleinen noch besonders. Schreibe mir gleich wieder, wenn Du kannst und nimm dünneres Papier, wenn Du mehr zu schreiben hast als einen Halbbogen, auf den Du mit Deiner Schrift nicht viel hineinbringst. Hoffentlich geht es Dir wieder gut. Lebe wohl mein liebes Suschen, sei froh und behalte den Kopf oben, wenn es auch runter geht; gieb Dir nicht nach und sei standhaft und bleibe gut Deinem
Hegel, KarlKarl Hegel
HiKo
11657075X
Hegel, Susanna Maria Karoline Henriette, geb. Tucher
Susanna Maria Hegel, geb. Tucher116146891918261878Hegel, Susanna Maria Karoline Henriette, geb. Tucher (1826–1878), häufig „Susette“ genannt, Tochter Johann Sigmund Karl Tuchers (1794–1871) und Maria Magdalena Tuchers, geb. Grundherr (1802–1876), Ehefrau Karl Hegels (1813–1901); siehe auch: Tucher, Susanna Maria.
Straßburg48.584614,7.7507127Ehemalige Reichs-, Universitäts- und Bischofsstadt am Westufer des Rheines und an der Ill zwischen Vogesen im Westen und Schwarzwald im Osten gelegen.
Privatbesitz
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Privatbesitz
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Delitzsch, Franz JuliusFranz Delitzsch11852455018131890Delitzsch, Franz Julius (1813–1890), in Leipzig geborener Theologe, der nach seiner Habilitation an der Universität Leipzig im Jahre 1842 von 1844 bis 1846 dort außerordentlicher Professor war. Von 1846 bis 1850 war er ordentlicher Professor der evangelisch-lutherischen Theologie (Altes Testament) an der Universität Rostock, dann von 1850 bis 1867 an der Universität Erlangen und von 1867 bis 1890 an der Universität Leipzig.
Rosel-Rosel, Hilfsperson im Erlanger Haus Karl Hegels (1813–1901).
Reuß, Eduard Wilhelm EugenEduard Wilhelm Reuss11892143618041891 Reuß, Eduard Wilhelm Eugen (1804–1891), in Straßburg geborener evangelischer Theologe und Gymnasiallehrer, der von 1819 bis 1827 am Straßburger Protestantischen Seminar, an der Theologischen Fakultät der Universität Straßburg sowie an den Universitäten Göttingen und Halle studierte. 1828 wurde er am Protestantischen Seminar in Straßburg Privatdozent, 1834 außerordentlicher, 1836 ordentlicher Professor der evangelischen Theologie an der Universität Straßburg und 1859 Direktor des Seminars. Außerdem wurde er 1838 außerordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät der Universität und erhielt 1864 den Lehrstuhl für Altes Testament, den er auch von 1872 bis 1888 an der neu gegründeten Straßburger Kaiser-Wilhelms-Universität behielt.
Cunitz, August Eduard11766609218121886Cunitz, August Eduard (1812–1886), in Straßburg geborener evangelischer Theologe, der 1837 Privatdozent am Straßburger Protestantischen Seminar und 1840 von der Theologischen Fakultät der Universität Straßburg promoviert wurde. Noch bevor die als Kaiser-Wilhelm-Universität im Jahre 1872 neu gegründete Universität Straßburg ihren Betrieb nach dem preußisch-französischen Krieg von 1870/71 im wieder deutsch gewordenen Elsaß aufnahm, war er in der französischen Zeit im Jahre 1857 außerordentlicher und 1864 ordentlicher Professor für Neues Testament am Protestantischen Seminar der Universität Straßburg geworden. Von 1881 bis zu seinem Tode war er Mitglied des Konsistoriums der Protestantischen Kirche Augsburgischen Bekenntnisses des Elsaß und Lothringens.
Baum, Johann Wilhelm11756875918091878Baum, Johann Wilhelm (1809–1878), evangelischer Theologe, ab 1847 Pfarrer an der Thomaskirche in Straßburg, 1860 ordentlicher Professor an der dortigen Universität.
Bruch, Jean-Frédéric (Johann Friedrich)11672464117921874Bruch, Jean-Frédéric (Johann Friedrich) (1792–1874), in Pirmasens geborener evangelischer Theologe, Professor an der Universität in Straßburg, war dort auch Dekan der Theologischen Fakultät und wirkte als Pastor der Saint-Nicolas-Kirche in Straßburg sowie als kirchlicher Inspektor; in der Kirche des Augsburger Bekenntnisses, verkörpert er den gemäßigten Liberalismus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Weizsäcker, Julius Friedrich LudwigJulius Weizsäcker
HiKo
11730804818281889Weizsäcker, Julius Friedrich Ludwig (1828–1889), in Öhringen geborener Historiker, der nach seinem Studium der evangelischen Theologie und seiner Habilitation im Fach „Geschichte“ an der Universität Tübingen im Jahre 1863 ordentlicher Professor für Geschichte an der Universität Erlangen wurde, 1867 in Tübingen, 1872 in Straßburg, 1876 in Göttingen und 1881 in Berlin. Von 1860 bis 1889 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter, dann Leiter der Abteilung „Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe“ der Historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften, von 1862 bis 1870 deren außerordentliches, darnach deren ordentliches Mitglied.
Lexer, MatthiasMatthias Lexer11905732818301892Lexer, Matthias (1830–1892), in Kärnten geborener Privat- und Gymnasiallehrer, Sprachwissenschaftler und Lexikograph, der 1861 wissenschaftlicher Mitarbeiter Karl Hegels am Editionsunternehmen „Die Chroniken der deutschen Städte“ der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften wurde und ihm auch nach seinem Ausscheiden verbunden blieb. 1863 wurde er außerordentlicher, 1866 ordentlicher Professor für Deutsche Philologie an der Universität Freiburg im Breisgau und war von 1868 bis 1890 Ordinarius an der Universität Würzburg. Im Jahre 1891 folgte er einem Ruf an die Universität München, verstarb aber ein Jahr später.
Brucker, Johann Karl101390528818161889Brucker, Johann Karl (1816–1889), Stadtarchivar Straßburgs.
Kerler, Dietrich
HiKo
11575220X18371907Kerler, Dietrich (1837–1907), Historiker und Bibliothekar, Oberbibliothekar der Universitätsbibliothek Würzburg, 1883 außerordentliches Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Er war Mitarbeiter Karl Hegels (1813–1901) bei seinem großen Editionsunternehmen der „Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrhundert“ für die Historische Kommission.
Bismarck, Otto11851136X18151898Bismarck, Otto (1815–1898), in Schönhausen an der Elbe geborener preußischer und deutscher Politiker, der 1850 Mitglied des Erfurter Unionsparlaments war, von 1862 bis 1890 preußischer Ministerpräsident, zugleich von 1867 bis 1871 einziger Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes und von 1871 bis 1890 erster Reichskanzler des Deutschen Reiches.
Hegel, Sophia (Sophiechen)Sophie Hegel-18611940Hegel, Sophia (Sophiechen) (1861–1940), vierte und jüngste Tochter Karl und Susanna Maria Hegels, geb. Tucher (1826–1878); sie blieb unverheiratet und absolvierte Stationen in München und Göttingen in den Haushalten der Schwestern Luise Lommel, geb. Hegel (1853–1924), und Anna Klein, geb. Hegel (1851–1927), später eine ca. 20 Jahre währende Tätigkeit als Lehrerin/Erzieherin an einem englischen Mädchenpensionat in Malvern, ab 1910 wieder in der Familie ihrer schwerhörigen Schwester Anna Klein lebend und dort vor allem in der Erziehung und Krankenpflege helfend; spätere Arbeit im sozialen Bereich in Göttingen.
Hegel, Sigmund (Mundel, Mundulus, Munerle)Sigmund Hegel11657085718631945Hegel, Sigmund (1863–1945), sechstes Kind (zweiter Sohn) Karl (1813–1901) und Susanna Maria Hegels, geb. Tucher (1826–1878), Mitglied des Corps Onoldia in Erlangen, Chemiker, Kaiserlicher Geheimer Regierungsrat am Reichspatentamt in Berlin.
Kehl48.5728929,7.8109768Auf der rechten Rheinseite, dem linksrheinischen Straßburg direkt gegenüberliegender Grenzort zwischen Deutschland und Frankreich.
RheinCirca 1233 Kilometer langer, im Schweizer Kanton Graubünden entspringender Fluß im Westen des Gebietes des Deutschen Bundes, von der Schweiz, durch den Bodensee, am Ende durch die Niederlande fließend und in die Nordsee mündend.
ElsaßLandschaft im Osten Frankreichs, von den Vogesen bis zum Flußlauf des Rheines und von der Burgundischen Pforte im Süden bis zur Stadt Weißenburg an der Lauter im Norden reichend, an die Schweiz und Deutschland grenzend.
FrankreichNach der Französischen Revolution von 1789 wurde das in Westeuropa am Atlantik gelegene Frankreich 1791 konstitutionelle Monarchie, 1793 Republik, 1804 Kaiserreich, 1830 Königreich, 1848 wieder Republik, 1852 erneut Kaiserreich und von 1871 bis 1940 zum dritten Mal Republik.
Rot(h)laufBakterielle Hautentzündung, die sich u. a. als Bläschen bildende Gesichtsrose zeigt.
RindsfußSeit dem Ende des 14. Jahrhunderts gab es in Straßburg ein Wirtshaus „Zu dem Rindsfuß“.
Casino (Straßburg)Ort für gesellschaftliche Zusammenkünfte vor allem der Herren des gehobenen Bürgertums mit unterschiedlichen Kommunikationsangeboten.
BrückenschiffePontonbrücke. Aus Schiffen gebildeter Weg zur Flußüberquerung.
Deutsch-Deutscher Krieg (1866) Der „Deutsch-Deutsche Krieg“, auch Preußisch-Österreichischer Krieg oder Deutscher Krieg, war eine militärische Auseinandersetzung zwischen Österreich als Anführer des Deutschen Bundes und Preußen sowie seiner Verbündeten, die am 14. Juni begann und bis zum 23. August 1866 andauerte; Bayern stand an der Seite der Österreichs. Durch den Sieg Preußens wurde die projektierte Einigung Deutschlands als einheitlicher Bundesstaates in Form der Kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung immer wahrscheinlicher, weswegen dieser Krieg auch als der zweite von insgesamt drei sogenannten Einigungskriegen (beginnend mit dem Deutsch-Dänischen Krieg 1864) bezeichnet wird. Die Gründung des deutschen Kaiserreiches unter den Hohenzollern erfolgte schließlich nach dem „Deutsch-Französischen Krieg“ als drittem und letztem sog. Einigungskrieg 1870/71.
Münster (Straßburg)Das zwischen 1176 und 1439 erbaute Straßburger Liebfrauenmünster gehört zu den bedeutendsten Kathedralen Europas, von dessen zwei Haupttürmen nur einer vollendet wurde.