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Karl Hegel an Susanna Maria Hegel, geb. Tucher, Oberstdorf, 28. August 1864

Liebstes Suschen! Gestern Vormittag erhielt ich Deinen lieben Brief von Donnerstag1. Nachdem Du drei Kinder fort spedirt hast, ist es Dir mit den drei anderen, wie ich sehe, fast zu stille im Haus. Was mich betrifft, so werde ich hoffentlich in wenig Tagen wieder bei Dir sein. Wenn nichts dazwischen kommt oder mich weiter in die Ferne zieht, will ich morgen Mittag von hier nach Immenstadt abreisen und am folgenden (Dienstag2) Abend in Nürnberg eintreffen. Dort denke ich meine Sehnsucht zu Dir zu bezwingen und Halt zu machen, um nach den Kindern zu sehen; auch mit Kern müßte ich sprechen. Vielleicht kommst Du auch herüber. Das wäre recht schön, wenn es sich so machen ließe! Im andern Fall komme ich am folgenden Mittag hinüber.

Ich schrieb Dir am Mittwoch3, der ein Regentag war; man trieb sich im Wirthshaus umher oder las in seiner Stube. Einige unterhielten sich mit Clavier und Gesang, Nachmittags wurde Kegel gespielt, als der Regen nachließ. Dafür war der folgende Tag wieder recht schön; die Berge erglänzten im früh gefallenen Schnee.

Ich ging am Vormittag allein in eines der schönen Thäler, die sich in das größere von Oberstdorf öffnen und dorthin kleine Gebirgsflüsse absenden, die sich dann zur Iller vereinigen. Mittags traf ich Prof. Jolly, den Physiker, aus München, mit Frau und Söhnen. Die Frau scheint leidend und bleibt von den Fußparthien zu Hause, wie auch die Frau Spiegel thut, die sich von ihrem kleinen Töchterlein nicht entfernen will und deshalb nicht weiter geht, als das Kind folgen kann.

Darum habe ich sie auch nur wenig gesehen, denn Mittags essen sie am andern Ort und Abends bleibt die Frau zu Hause. Am Nachmittag besuchte ich Tiefenbach, wo ein Schwefelbad ist. Der Weg dorthin durch das Thal des Flüßchen Breitach ist gar schön und nicht minder der Rückweg über die Höhe, von der aus man eine weite Aussicht auf das Gebirgspanorama hat; die Abendbeleuchtung auf den Schnee bedeckten Bergen war wunderschön.

Am folgenden Tag (Freitag) machte ich eine weitere Tour mit einer verschiedenartigen männlichen Gesellschaft aus Augsburg und München in das ferner gelegene Oythal, welches mit einem prächtigen Wasserfall im Hintergrunde abschließt. Man hatte sich mit Proviant versehen und verzehrte sein Mittagbrod auf einer selbst gemachten Bank an einer Alphütte im Angesicht von drei Wasserfällen, die von Bergeshöhe herunterstürzen. Wir stiegen noch eine Stunde den Berg hinauf, wo ich das beifolgende Alpenröschen4 für Dich, mein liebes Suschen, pflückte.

Um 9 Uhr waren wir ausgegangen und um 4 ½ Uhr kamen wir ziemlich ermüdet zurück. Dafür konnte ich am folgenden, gestrigen Tage, mehr als mir lieb war, ausruhen. Denn es war ein abscheulicher kalter Regentag, schlimmer noch als der Mittwoch. Zum Trost erhielt ich Deinen lieben Brief. Die meiste Zeit war ich zu Haus und las und schrieb, plauderte am Abend mit Spiegel.

Heute morgen sind die Berge noch weiter herunter beschneit, aber die Sonne scheint hell und warm, und ich bin im Begriff mich auf den Weg nach dem Höllenthal zu machen.

Weitere Nachricht wirst Du erst mündlich von mir erhalten.

Ich grüße die lieben Kinder, soviel denn bei Dir sind, zumal mein Annchen, die doch allein unter diesen ein Verständniß für meinen Gruß hat. Lebewohl, mein theuerstes Kleinod! und mein liebes Herz!

der Deinige.