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Karl Hegel an Georg Gottfried Gervinus, Rostock, 1. September 1844

Lieber Gervin!

Ich will mein langes Stillschweigen gegen Dich nicht entschuldigen, – denn Du klagst mich nicht an und ich bin mir bewußt, daß ich dir in meiner Seele ein Freund geworden und daß ich Deinen schriftstellerischen Thaten mit freudiger Theilnahme gefolgt bin, aber ich will es Dir erklären, in dem ich Dir einen Bericht erstelle, so kurz wie möglich, über meine stillen Lehrjahre, die ich hier in einer gewissen Einsamkeit verlebt habe.

Es sind bis zum Herbst drei Jahre meines hiesigen Aufenthalts verflossen. Ich kann nicht sagen, daß ich in diesen viel Zeit verloren hätte, aber freilich muß ich gestehen, daß ich langsamer vorwärts komme als Du. Doch Jeder nach seiner Gabe! In den ersten zwei Jahren habe ich Vorlesungen ausgearbeitet, über deutsche Geschichte, Neuere und neueste Geschichte, über Machiavelli und Dante; für die viele Mühe wurde ich von meinen Zuhörern nicht eben sehr belohnt. Wenige wollen von der Geschichte hier etwas wissen; wird sie doch in keinem Examen gefordert! und darauf arbeitet hier wenigstens die Jugend fast ausschließlich los. Es gibt nicht einmal Philologie Studierende an hiesiger Universität, denn der Schulunterricht im Lande wird von der Überzahl der wartenden Candidaten der Theologie versorgt. Ich glaube kaum, daß an irgend einer andern Universität in Deutschland ein so unfreies, nur durch das Brotstudium bedingtes Streben der Jugend gefunden wird. So viel davon! Nun im dritten Jahre, nachdem ich mit einer Art von Verzweiflung gesehen, daß meine auf die Vorlesungen gewandte Mühe vergeblich gewesen, habe ich meine unterbrochenen Italienischen Studien wieder vorgenommen. Du weißt die Geschichte der Florentinischen Verfassung hat mich in Italien und eine Zeit lang nachher beschäftigt. Als ich nun wieder daran gehen wollte, konnte ich den Anfang nicht finden. Die Art und Weise, wie der Zusammenhang der mittelalterlichen Verfassung der italiänischen Städte mit der römischen geknüpft wird – eine von Savigny, oder abgerissen wird, eine von Leo, wollte mir in keiner Weise zusagen. Ich wollte zu einer bestimmten Ansicht und Klarheit darüber kommen und wurde dazu verleitet, die schwierige Untersuchung selbstständig und von vorn anzufangen. Ich habe sie durch die römische Republik und Kaiserzeit, die ostgothische, griechische, langobardische, fränkische Zeit hindurchzuführen. Mir ist dabei zu Muthe wie einem Minierer und Mauerbrecher, der tief in dem Gang steckt, den er angelegt hat und sich nicht bekümmert um das, was über ihm am Tageslicht auf der Erde vorgeht. Ich muß durch und glücklicher Weise habe ich schon den Faden gefunden, der mich hinausführen will, den Faden, der die römische Welt mit der germanischen in dem Städtewesen verbindet. Es sind nicht die Decurionen, wie Savigny gefunden haben will, ein römisches Institut, welches sich gleichsam in der Erstarrung vom 6ten bis zum 11ten Jahrhundert erhalten haben soll, bis ein glücklicher Zufall ihm ein neues Leben einhauchte, sondern die bischöfliche Gewalt, oder die römische Kirche überhaupt, welche das römische Wesen zum germanischen hinüberleitet.1

Ich habe dich in meinen unterirdischen Schacht hereinschauen lassen, lieber Gervin, um Dir zu erklären, warum ich an Deinem Treiben und Bauen in dem Tageslicht der Gegenwart keinen Antheil, weder durch Mitarbeiten noch durch fortgesetzte Mittheilung gewonnen habe. Du hast Dich so sehr, wie ich vernehme, in die Interessen des Tages geworfen, daß Du selbst eine Deutsche Geschichte für ein zu weitläufiges Unternehmen erklärst. Wie sollte ich hoffen, mit meiner Arbeit vor Dir Gnade zu finden, der ich nur einen wissenschaftlichen Zweck verfolge! Meinerseits gebe ich Dir ganz Recht, daß Du nicht mehr, wie früher, mit Deinen Arbeiten der Wissenschaft zugleich und einer nationalen Zeitaufgabe dienen willst. Man kann nur den einen oder den andern Zweck wirklich durchführen! Mit dem politischen Interesse des Tages ist es schwer oder unmöglich die Hingebung zu vereinigen, welche die Wissenschaft verlangt und mit dieser wäre es ein ganz unverhältnismäßiger Aufwand von Zeit und Mühe und überdies ein verfehltes Mittel, nur ein momentanes Motiv der Gegenwart zu fördern. Wenn ich Dich recht verstehe, so kannst Du auch die eigentliche Geschichtsschreibung für Dich nicht mehr wollen, denn nur ist eine Darstellung des Geschehenen möglich, wenn sie von der momentanen Tendenz beherrscht sein soll? Nach meiner Ansicht müßte und dürfte sie nur vor dem nationalen Geist der Gegenwart, im Ganzen, nicht in seinen einzelnen und vorübergehenden Zeitrichtungen, durchdrungen sein. In Deiner Geschichte der deutschen Poёsie2 hast Du doch auch diesen Gesichtspunkt hauptsächlich festgehalten, denn die besondre Tendenz tritt nur im letzten Bande beiläufig hervor, warum willst Du ihn jetzt aufgeben?

Deiner Einladung nach Berlin kann ich für diesmal zu meinem großen Bedauern keine Folge geben. Abgesehen davon, daß ich erst vor kurzem drei Wochen dort zugebracht habe, als die Krankheit meiner lieben Mutter mich dahin rief, so würden meine Vorlesungen mich jetzt nicht wieder sogleich abkommen lassen. Überdies drängt mich meine Arbeit recht sehr, damit ich im Winter mit ihr zu Ende komme. Ich möchte mich mit ihr so viel empfehlen, daß ich der hiesigen Universität den Abschied geben könnte.

Von dieser und meinen und Deinen Freunden bei derselben wird Dir Beseler, dessen letzter kurzer Besuch mir äußerst wohlthätig und förderlich gewesen, näher Auskunft geben. Er wird Dir sagen, daß wir hier in kleinlichen Interessen verkümmern oder im juristischen Formalismus erstarren oder im bequemen Lebensgenusse versüßen oder versauern. Willst Du den Zustand eines genügsamen, in sich selbst seligen Deutschen Provinzialismus kennen lernen,3 so mußt Du hierher kommen. Es wäre dies eine nöthige Ergänzung Deiner Anschauung von Deutschland. Welche Freude Du mir und Deinen andren Freunden durch Dein Hierherkommen machen würdest, brauche ich Dir nicht erst zu sagen. Du schreibst nichts von Deiner lieben Frau: sie ist doch mit Dir und erinnert sich meiner noch mit inniger Freundschaft? Gewiß würde sie gern die Frauen von Thöl und Wunderlich kennen lernen, wie auch diese sei, da sie von ihren Männern viel von ihr gehört haben. Ich bemerke noch, Du könntest hier, ich meine in dem anmuthigen gemüthlichen Warnemünde, Seebäder nehmen und von hier mit Leichtigkeit per Dampfschiff nach Copenhagen gelangen.

Es hat ein besonders günstiges Geschick für die Universität Heidelberg gewaltet, daß Du bei ihr nicht bloß zu einer Stellung, wie Du sie wünschtest, sondern auch zu einem weiter reichenden Einfluß gelangt bist. Als Philosoph würde dort keiner mehr passen als Rosenkranz. Du magst gegen seine Schriftstellerei sagen, was Du willst, so steht doch fest, daß es keinen anregenderen lebendigeren Docenten gibt als ihn und da man bei Euch von der Philosophie weniger ein System als eine Gymnastik des Denkens begehrt, so wäre Rosenkranz ganz der Mann. Nähere Auskunft über ihn kann Dir Hotho geben. – Es freut mich sehr, daß Du meine Mutter besucht hast; ich wünschte wohl, daß Deine Frau sie näher kennen lernte; doch weiß ich, wie in Berlin die Entfernungen und die vielen Bekanntschaften ein näheres Verhältniß erschweren. Überdies ist meine Mutter jetzt durch ihre neue Verwandtschaft und die Folgen ihrer letzten Krankheit sehr gebunden. – Ich grüße Deine liebe Frau herzlichst, ebenso Beseler und Frau. Lebe wohl, theuerster Gervin. Dein getreuer

Hegel.