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Karl Hegel an Georg Gottfried Gervinus, Florenz, 10. Juni 1839

Liebster Gervin!

Zu lange schon habe ich meine Antwort auf Deinen Brief aus Venedig1 anstehen lassen; daran sind theils andre Briefe, die ich nach Berlin schreiben mußte, Schuld, theils meine Arbeiten2 hier, die mich fast zu sehr in Anspruch nehmen. Indessen hast Du die Badekur in Gastein ausgehalten, und ich wünsche das Allerbeste von den Wirkungen derselben für Deine Gesundheit recht bald zu hören. Ich bin ferner begierig zu hören, wie Du über unsre neudeutsche Kunst in München urtheilst und was meine liebe Geburtsstadt Nürnberg für einen Eindruck auf Euch zurückgelassen hat. Gern hätte ich Dir einen Brief an meine Verwandten dort geschickt, wenn ich sicher gewesen wäre, Dir damit einen Dienst zu leisten.

Wenn ich Dir von meinem Treiben hier berichte, so hoffe ich von Dir, die ganze Theilnahme einer gleichgesinnten und befreundeten Mitschabe nicht nur, sondern einer Ehrenschabe, eines Senators unter den Schaben zu finden. Wer war es, der den Katalog einer Auction in Villa Mattei studierte? wer war es, der den Herder in Tivoli und Subiaco excerpirte? Wer seufzte auf mancher Römischer Gallerie, weil dort Bilder und keine Bücher waren? Das kriegst Du vorweg, damit ich hernach weder von Dir, noch von Deiner Frau Vorwürfe hören muß. Ich will sehen, ob auch ich zünftig werde in der Schaben- und Mottenzunft; und dazu habe ich hier den Anfang gemacht. Aber nun zur Sache!

Eine kleine Zeit ging ich noch dem Duca Valentino auf der Fährte nach, konnte ihm aber nicht weit verfolgen, da ich merkte, daß er im Vatikanischen Archiv steckt, wie der Fuchs im Loch. Die Relazionen aus der Zeit, die ich hier unter Manuscripten zu finden hoffte, sind wie absichtlich ausgemerzt und entfernt. Die Titel habe ich gefunden, aber nicht die Manuscripte. Cavalcanti und Machiavelli brachten mich auf Florentinische Verfassungsfragen, und ich begann, diesen weiter nachzugehen. Ich traf in den späteren Werken der Florentiner, die sich auf gelehrte Weise mit ihren vaterländischen Dingen beschäftigt haben, nur die kümmerlichsten Nachrichten darüber. Dann stieß ich auf einen gedruckten Gesetzcodex Florentinischer Statuten, vom Jahr 1415, (in vorigen Jahrhundert unter Peter Leopold gedruckt) der wohl dem Namen nach von Einigen hier, aber dem Inhalte nach weder von diesen, noch von den Früheren kaum oberflächlich gekannt ist. Denn was die florentinischen Statuten angeht, und die florentinische Verfassung, so denken die Leute hier, die die vaterländische Geschichte gründlich zu kennen behaupten: das gehe die Juristen an. Und die Juristen haben dazu vor praktischen Geschäften keine Zeit, oder schieben es den Historikern zu. So weiß keiner was davon. Ich habe mich nun nicht ohne Mühe dahineingearbeitet – das Statutenlatein ist abschreckend, der Mangel an Ordnung in denselben, die unendliche Breite und Trockenheit sehr hinderlich und ermüdend; dennoch fand ich reichliche Aufschlüsse genug, um mir ein vollständige Bild der florentinischen Verfassung jener Zeit entwerfen zu können. Während ich dies in der Bibliothek betrieb, fing ich zu Hause die Florentinischen Historiker von vorn an, um dem Entwicklungsgang der Verfassung zu folgen. Das Hauptstück, die Villani’s, ist nun auch abgefertigt, und mit den folgenden Historikern bin ich nun bis in’s 15te Jahrhundert angelangt.

Indessen sprachen mir diese Historiker, wo sie auf Verfassungsverhältnisse zu reden kamen, trotz meines Statutenstudiums noch so unverständlich, daß ich nach neuen Aufschlüssen ungeduldig wurde; und da fand ich mich zuletzt immer von den zugänglichen Bibliotheken auf das unzugängliche Archivio delle Riformagioni zurückgeführt, von abgeleiteten Bächen auf eine verborgene, reichhaltige Quelle. War ich einmal so weit gegangen, so wollte ich auch weiter und zu Ende. Also wandte ich mich kurz und gut an meinen Gesandten und ließ durch denselben höheren Orts eine Petizion einreichen, um die Statuten im Archiv einsehen zu dürfen.3 Auf den Bescheid mußte ich über zwei Wochen warten; endlich bin ich seit der vorigen Woche hineingekommen. Ich fand dort 4 frühere Gesetzsammlungen, außer jener gedruckten, wovon die erste mit 1292 anfängt, die kein Mensch, scheint’s, seit der Republik gekannt hat. Es sind fast Alles Originalmanuscripte; die Freude, womit ich drüber hier bin, ist gewiß nicht geringer als die der vorgängigen Motten, die ihre runden Löcher durch und durch gefressen haben, vom ersten Blatt bis auf’s letzte. Bis über 3 Uhr Nachmittags sitze ich im Archiv und excerpire, ich hoffe sie in einigen Wochen durchzuarbeiten, und wenn mein Genius mir günstig ist, so nehme ich die Zunftstatuten, die in einem andern Archiv liegen, auch noch durch. Ich hoffe dann daraus eine vollständige und gründliche Arbeit machen zu können. Dazu ist mir aber auch ein gewisses Studium der Politik und andrer mittelalterlicher Stadtverfassungen nöthig, um eine allgemeine Ansicht und ein historisches Urtheil über meinen Gegenstand zu gewinnen. Ich bitte Dich um Deine Meinung über diese Arbeit, zu der mich halb Vorsatz, (nicht ganz, denn sie hätte mir zu groß geschienen, um sie für einen kurzen Aufenthalt zu unternehmen und auch Gaye meinte, es gehörten Jahre dazu), halb der oben erzählte Fortgang ein gewisses Glück gebracht haben.

Auch nach Machiavelli ist alles menschliche Thun halb Willen, halb Glück und Geschick. So wird’s mir auch von Berlin aus. Angetragen wird mir durch die Güte meiner Freunde und meiner Mutter ein Nachschub von ein paar hundert Thalern zu Reisekosten und eine noch nicht gewisse Aussicht auf eine Geschichtslehrerstelle mit4 600 Thalern Gehalt in Berlin. Um beides habe ich erst geschrieben, nachdem es mir angeboten worden.

Du kannst Dir denken, daß mir für Florenz und seine Genüsse nicht viel Zeit übrig bleibt, außer Abends zu lieblichen Spaziergängen. Doch bin ich mit einer liebenswürdigen Englischen Frau, Namens Cranford bekannt geworden; die Italiänischen, auch Florentinischen sogenannten Gelehrten sind mit wenigen Ausnahmen Charlatane, ärger als die Franzosen. Ich behaupte, daß die Franzosen viel mehr werth sind, als die Italiener; denn jene haben noch das point d’honneur, das ihnen zu vielen Tugenden, wenn auch scheinbaren, verhilft; diese haben auch das nicht und sonst nichts, als eine gewisse Naivität, die sie bisweilen liebens-, bisweilen verachtungswürdig macht. Gewandtheit und Geist haben die Franzosen auch mehr. Von den Deutschen aus Rom sind hier an mir vorübergegangen erst Boisserées, Ende April, die nur 8 Tage hier blieben, und Euch sehr grüßen ließen, dann die gute, aber etwas lahme Paste5, Müller aus Eisenach mit dem Ehepaar Heuß, ich lachte ihn aus über den Tausch, den er gemacht, hinsichtlich der Reisegesellschaft. Er meinte, so ein Lasciapassare, wie jene hätten, wäre doch auch was werth. Höfler wird seit 4 Wochen immer erwartet. Er hat jetzt einen Orden vom Pabst bekommen – der Schlaufuchs! wenn auch der König von Baiern und der katholische Fanatismus seines Bruders dazu mit gewirkt. –

Deine Kunstfreude an den Venezianern hat mich sehr gefreut, fast überrascht. Ob Du was darüber drucken lässest? Deine liebe Victorie ist von mir herzlich gegrüßt. Du schreibst mir von ihr nicht ein Wort, nicht einen Gruß. Hat das was zu bedeuten?
Hier werde ich unmöglich eher fertig als Anfang Juli, Mitte Juli bis gegen Ende hin bin ich in Venedig. Dann in Wien, wo ich mit meinem Bruder zusammenzutreffen gedenke. Schreibt mir recht bald, Euer Hegel.