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Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Darmstadt, 18. Januar 1836

(Aus einem Briefe an Hegel.)2

Kürzungszeichen Wissen Sie was mich so geheim an die Gudrun fesselte? Ich entdeckte seitdem tausend Beziehungen zwischen dem Gedicht und unserer Lieb und Leidensgeschichte; die schönte Gruppirung der ähnlichen Charaktere im Gedicht und in unserer Umgebung, (Gudrun und Hildburg namentlich die schönsten Abbilder der 2 Schwestern); dazu Victories hochepischer, von aller Sentimentalität entfernter Charakter, und tausend solche Groß- und Kleinheiten mehr, so da ich die Hoffnung habe, plastische und innere Lebendigkeit zugleich in die halbtodte Skizze zu bringen, und die Brautjahre geben mir vielleicht die Ader, die heutzutage unter Prosa und Gemeinheit kein dichtender Mann mehr lebenslänglich serviren kann, auf eine angemessene Dauer. Ich lege Ihnen Einen Gesang zur Probe nächstens vor. Ich weiß gar nicht3 zu scheiden, ob das Ding sehr bedeutend oder sehr nichtig ist, und verlange Ihr unbarmherzigstes Urtheil. Manchmal scheint mir, als ob kein Mensch der Welt mit Homer so nahe stehen könne als ich, weil auch sicherlich jemand diese Dichtungen so innig und so im rechten frischen Knabenfeuer und regster Phantasie erfaßt hat, manchmal dünkt es mir so unendlich klein, was ich da hin schreibe, weil es doch nur nachgeahmt ist, und ohne Homer nicht sein würde. Aber kann das nicht beides zugleich sein? Wäre denn Iphigenie ohne die alten Tragiker? und die Braut von Messina, die ich neulich mit Erstaunen wieder gelesen habe. Ich halte die ersten 3 Akte für Schillers Triumph.

Schreiben Sie mir doch etwas über Ihr Treiben und lassen Sie sich allmählich schon jetzt zu einem ordentlichen Briefwechsel an.

Grüßen Sie alle.
Herzlichst Ihr
Gervin.