XML PDF

Georg Gottfried Gervinus an Karl Hegel, Heidelberg, 22. Februar 1840

Lieber Erek.

Gott sei Dank daß Dir das Schulmeistern gefällt, denn es wäre wirklich ein Jammer gewesen, wenn ich Dich immer hätte in Misere sitzend denken sollen. Aber Du packst es an den rechten Enden. Das Alles was Dich nach Deinem letzten Briefe an Deiner Jugend fesselt, war es auch was mir die wenige lieb machte und ich will Dir nur bessere Erfahrung wünschen als mir. Nicht daß ich so schlecht von der Jugend überhaupt dächte, aber wohl von der in großen Städten wie Berlin und Frankfurt. Was in meiner Praxis mit 10-12 Jahren am meisten versprach hielt im 18-20ten Lebensjahr am wenigsten, und das ist traurig. Die Erfahrung in meiner Schule in Darmstadt war die, daß die früherhin Langsamen gewöhnlich später mehr Energie übrig hatten, in Frankfurt war es umgekehrt und das ist das Zeichen der Entartung, die wenig Lust zu Beobachten macht.

Deine Recension1 hab ich gelesen. Es ist schwer daß wir darüber schreiben und reden. Du hast dabei Pietät zu beobachten, ich habe diese zu respectiren, und habe dazu wenig Gabe. Wenn Du Dich einmal recht auf die bloße Pietät vor der Wahrheit isolirst, was gewiß und wahrhaftig nicht so leicht ist, so wirst Du finden, daß in den zwei Hauptpuncten, wo Du differirst, meinen Gründen gar nicht zu antworten ist. Daß nämlich die Lyrik da wo sie am selbständigsten ist, d. h. im Lied und in der Ode, einerseits (im Liede) der Musik zufällt, liegt doch in der ganzen Geschichte klar, wo nie ein Lied anders als gesungen worden ist, und nur bei uns unklar, wo man zu der Unnatur kam, Lieder zu lesen und Dramen zu lesen, statt zu singen und darzustellen; und daß sie andrerseits (in der Ode), die Musik blos copirt, habe ich bei Klopstock so deutlich als nur möglich ist zu machen gesucht, mehr mit Herders Warten, als meinen eignen, der dort sehr fein gewittert hat. (Diesem Satze war auch ein Musiker in den Jahrbüchern der Berliner Deutschen Gesellschaft2 – ich glaube von 1836 – sehr nah auf der Spur.) (Erek! soll ich Dich schulmeisternden Menschen noch Logik lehren! ich Unphilosoph! Als ob die ächte Geschichtsschreibung eine Gattung wäre und3 nicht ein Grad! Als ob ich nicht deutlichst gesagt hätte, daß der Chronist Thukydides und der Memoirist Machiavell ächte Historiker wären, weil sie eben nicht bloße dürre Chronisten und Memioristen sind! und folgerecht – als ob das Drama die allein ächte Poesiegattung wäre! als ob nicht ebenso jeder Epiker und Dramatiker nicht Kraft der Form sondern Kraft des Grades seiner Fähigkeit ein ächter Dichter sein könnte! Und was das Verhältniß von Philosophie und der Geschichte angeht, so kann ich auch da nicht über das Vielwiederholte weg: wo Geschehenes als geschehen, d. h. in Reihenfolge erzählt wird, gleichviel ob kurz oder lang, resumirend oder detaillirt, speculirend oder anschauend raisonnirend oder referirend, da ist und bleibt Geschichte, höchstens philosophische Geschichte, wie Dein Vater selbst sein Buch nennt, Philosophie allgemein ausgesprochen ward. Diese Einleitung erkenne ich gerne als meine bedeutende Zugabe zur Begründung einer Philosophie der Geschichte, nur würde diese letztere, vollständig, vieles nicht voraussetzen, in dem Dein Vater auf andere Theile seines Systems verweist, und ausgeführt würde sie nicht die Weltgeschichte verfolgen sondern seciren, schon deßhalb weil das Gesetz der Entwicklung im Gange der Menschheitsgeschichte wohl am vollkommensten studirt werden kann, aber nicht am selbständigsten, da die Geschichte noch nicht zu Ende ist. – Wie kommts denn daß sich die Hallischen Jahrbücher auch gegen Deinen Vater richten? ich dachte die stünden auf Eurer Seite? Hast Du denn auch gehört, daß Gutzkow, mein geschworener Feind, der jetzt in Prosa und Versen gegen mich wüthet, auch Dich angegriffen hat gleich bei Deinem ersten Ausritt? Da hast Du’s! Dies ist Deine Nemesis.

Unser Hausbau4 fängt nun bald an. Hoffentlich wird’s eine allerliebste Besitzung. Lage, Gegend, alles ist einzig. Die Beschäftigung im Freien thut mir einzig wohl und es geht mir diesen Winter sehr leidlich. Ich arbeite fleißig und rasch am 1. Theil 2te Auflage; und am 4ten Theil die so ziemlich zusammen erscheinen werden.5 Klopstock, Wieland und Lessing, sind mir wohl leidlich gerathen. Hier doch hätte ich gewünscht einen andren Ton, knappere Behandlung wählen zu können, allein nun muß doch das ganze Opus uno tenore durchgeführt sein. Wenn ich das Handbuch nach meinen Gedanken durchzuführen tauglich und geduldig genug bin, soll es in schöner reiner Form die höchsten Resultate zusammenstellen, einfach und plan, für die Jugend verständlich und für den Kenner verständig und gründlich. Kannst Du was thun für seine Einführung auf euren Schulen, so soll michs freuen; es ist mir doch wesentlich für meine Subsistenz, denn ich komme täglich tiefer in den Lieblingsgedanken, meinen elysischen Weinberg nicht mehr zu vertauschen.

Ida ist lange verheirathet.6 Wir sehen beide oft. (Ich glaube Du hast sie zu hoch taxirt. Ich finde sie die bedeutendste unter all den hiesigen Frauen ohne weiteres. Allein – but yet a woman7. Du deutetest mir einmal sehr sicher an, daß sie nicht Herr Ihres eigenen Willens in dieser Sache gewesen sein könne, Einflüssen anderer Personen gewesen perge perge. Das ist aber grade umgekehrt; die Mutter war ganz damit unzufrieden. Respectabel übrigens ist sehr, wie sie sich in ihren Mann findet, der unter ihr steht und ihr gegenüber immer unter sie rückt, sogar in seinem eigenen Gefühl. Das muß sie schlau machen. Für klug halte ich sie auch noch mehr als für weise.) Sie ist uns die liebste von Allen, Victorie hat sie sehr gern, wir sehen uns wenigstens alle 8 Tag Samstag Abends – künftig sind wir ja nahe Nachbarn. Victorie geht’s gut, sie lernt eifrig französisch und italienisch, spielt Clavier, ist in Thibauts Singverein, hört Geschichtscollegien und bildet sich jetzt. Was wird das für Gelehrsamkeit werden!

Grüße die Mutter schönstens. Von Gans’ Tod haben wir ja schnöder Weise kein Wort geredet! und von Gaudys! eure Berliner müssen nicht nach Italien gehen!

Dein
Gervin.

P. S. Victorie grüßt bestens.